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Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

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Nikolajew: "Sagen Sie mir doch e<strong>in</strong>mal, wer mich überhaupt angezeigt hat. Sagen Sie mir,<br />

wem me<strong>in</strong> Verhalten unangenehm aufgefallen ist."<br />

Dmitriewskij: "Es hat ke<strong>in</strong>e Klagen über Ihr Benehmen gegeben. Nicht Ihr Verhalten ist<br />

sozial gefährlich, es s<strong>in</strong>d Ihre Ansichten."<br />

Nikolajew: "Das kann ich nicht glauben. Was immer ich über diese Gesellschaft denke, sie<br />

wird sich nicht ändern. Wenn ich sie verdamme, wird sie nicht schlechter. Wenn ich sie lobe, wird<br />

sie nicht besser. Deshalb können me<strong>in</strong>e Ansichten für diesen Staat gar nicht gefährlich se<strong>in</strong>."<br />

Dmitriewskij: "Und das ziehen Sie vor - die Gesellschaft zu loben oder sie zu<br />

verdammen?"<br />

Nikolajew: "Ich möchte gern bei me<strong>in</strong>em Pr<strong>in</strong>zip bleiben, dass mich das nichts angeht."<br />

Dmitriewskij: "Diese Haltung gegenüber der Gesellschaft stellt e<strong>in</strong>e soziale Gefahr dar. Sie<br />

waren doch schon drei Mal über längere <strong>Zeit</strong> <strong>in</strong> psychiatrischen Anstalten. Sie sollten unsere<br />

Staatsmasch<strong>in</strong>erie kennen. Wir alle s<strong>in</strong>d bestimmten Organen unterstellt. Und wenn wir e<strong>in</strong>e<br />

Direktive erhalten, so s<strong>in</strong>d wir verpflichtet, sie zu befolgen. Alexander Solschenizyn (Der Archipel<br />

Gulag, 1974; *1918+2008)) wurde wegen se<strong>in</strong>er politischen Auffassungen ausgewiesen. Doch Sie<br />

s<strong>in</strong>d nicht so bekannt wie er. Sie wird man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e psychiatrische Kl<strong>in</strong>ik sperren."<br />

So geschah es. Nikolajew, dessen Gedächtnisprotokoll Freunde 1974 <strong>in</strong> den Westen<br />

schmuggelten, wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sonderkl<strong>in</strong>ik e<strong>in</strong>geliefert. <strong>Ke<strong>in</strong></strong>er weiß, ob er noch lebt.<br />

Die Personen s<strong>in</strong>d austauschbar, die Methode bleibt dieselbe - auch wenn es um die<br />

Verfolgung von Christen geht. Der Fall des Gennadij Schimanow ist für mich e<strong>in</strong> Paradebeispiel.<br />

Der Moskauer Lehrer wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e psychiatrische Kl<strong>in</strong>ik e<strong>in</strong>geliefert, weil er se<strong>in</strong>e Nachbarn von<br />

der Existenz Jesus überzeugen wollte und deshalb von e<strong>in</strong>em Spitzel beim KGB angeschwärzt<br />

worden war.<br />

Der Psychiater Dr. Schafran redete Schimanow bei der Exploration <strong>in</strong>s Gewissen: "E<strong>in</strong><br />

Mensch, der sich so fanatisch für se<strong>in</strong>e Religion e<strong>in</strong>setzt wie Sie, muss krank se<strong>in</strong>. Vielleicht bleiben<br />

Sie dabei sogar <strong>in</strong>nerhalb des gesetzlichen Rahmens, aber faktisch schaden Sie dem Staat, <strong>in</strong>dem Sie<br />

verlorene Schafe <strong>in</strong> den Schoss der Kirche zurückführen wollen."<br />

Als Schimanow sich auf die sowjetische Verfassung berief, die jedem Bürger ausdrücklich<br />

Religionsfreiheit zusichert, wurde der Psychiater noch deutlicher: "Begreifen Sie denn nicht, dass<br />

sich der KGB den Teufel um die Gesetze schert? Sie werden vernichtet, unweigerlich. Sie s<strong>in</strong>d<br />

nicht der E<strong>in</strong>zige, aber das wird Ihnen nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Trost se<strong>in</strong>. Es betrübt mich mit anzusehen,<br />

wie Sie sich e<strong>in</strong>e Märtyrer-Krone flechten."<br />

Schimanow kam glimpflich davon. Se<strong>in</strong> Fall wurde <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheiten im Ausland<br />

bekannt, und nach e<strong>in</strong>em dreiwöchigen Hungerstreik setzte man ihn aufgrund <strong>in</strong>ternationaler<br />

Proteste wieder auf freien Fuß.<br />

Wie sehr sich im Westen die Öffentlichkeit über solche Praktiken der sowjetischen<br />

Psychiatrie auch erregen mag, für den, der <strong>in</strong> der UdSSR aufgewachsen ist, ersche<strong>in</strong>t dies alles<br />

normal, geradezu alltäglich. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Zweifel an der Staatsideologie<br />

ist <strong>in</strong> den Sowjetrepubliken so etwas Undenkbares, dass viele Bürger <strong>in</strong> der Tat glauben, e<strong>in</strong>er<br />

müsse geistesgestört se<strong>in</strong>, der auf dem Roten Platz <strong>in</strong> Moskau Flugblätter verteilt oder <strong>in</strong> Len<strong>in</strong>grad<br />

für die Bürgerrechte demonstriert.<br />

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