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Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

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• Dass oft mehr von e<strong>in</strong>em erwartet wird, als man leisten kann (39 Prozent).<br />

• Dass viele durch Drogen gefährdet s<strong>in</strong>d (37 Prozent).<br />

Eben - die Erosion <strong>dieser</strong> Jahre: E<strong>in</strong> Hauptschulabschluss ist ke<strong>in</strong>e Garantie mehr für e<strong>in</strong>e<br />

Lehre, e<strong>in</strong> Abitur nicht mehr für e<strong>in</strong> Studium, e<strong>in</strong> akademisches Examen bedeutet schon lange<br />

nicht mehr Tantieme und Vorstandsposten. Die traditionellen Werte, wonach auf Leistung und<br />

Tüchtigkeit e<strong>in</strong>e Prämie stünde, haben heute ke<strong>in</strong>e reale Grundlage mehr. Das merken am stärksten<br />

die Jugendlichen, weil sie immer noch mit althergebrachten Erziehungsidealen konfrontiert werden.<br />

Die Maxime "Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Befehl und Gehorsam" garantiere Leistung und Erfolg,<br />

hat <strong>in</strong> Wirklichkeit zu e<strong>in</strong>em schleichenden Selbstwertverlust geführt - und zwar nicht nur bei den<br />

Jugendlichen, sondern auch unter den Erwachsenen.<br />

Szenenwechsel - Schauplätze des schleichenden Selbstwert-Verlustes ist beispielsweise die<br />

Dortmunder Gewerbliche Berufsschule III, genauer gesagt, die so genannten "Jungarbeiter-<br />

Klassen", <strong>in</strong> denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefasst werden. Dabei schien für den<br />

Volksschüler Detlef Sorga eigentlich alles klar: Er wollte Fernmeldetechniker werden. Mit se<strong>in</strong>em<br />

qualifizierten Hauptschulabschluss nach dem freiwilligen 10. Schuljahr glaubte der Dortmunder<br />

Bergmannssohn sich e<strong>in</strong>er Lehrstelle sicher zu se<strong>in</strong>.<br />

Detlef täuschte sich. Nach der Schule fand der 16jährige weder e<strong>in</strong>e Ausbildungsstelle<br />

noch e<strong>in</strong>en Hilfsarbeiterjob. Alltag <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Se<strong>in</strong> Klassenkamerad Wolfgang Weber, 16, will technischer Zeichner werden. Der<br />

Kranführersohn fand ke<strong>in</strong>e Lehrstelle und ist seit vier Monaten arbeitslos. Ulrich Schotte, 16, will<br />

Schlosser werden. Auch er hat ke<strong>in</strong>e Lehrstelle. Er ist schon vor e<strong>in</strong>em Jahr nach der 9. Klasse von<br />

der Volksschule abgegangen und ist seit sechs Monaten arbeitslos. Der Sohn e<strong>in</strong>es Hoesch-<br />

Arbeiters bekommt 24,50 Mark Arbeitslosengeld die Woche, weil er <strong>in</strong>zwischen knapp e<strong>in</strong> Jahr als<br />

Hilfsarbeiter auf der Zeche gearbeitet hat.<br />

Drei von den vielen Arbeitslosen Dortmunder fünfzehn- bis sechszehnjährigen<br />

Jugendlichen dürfen nur alle zwei Wochen <strong>in</strong> der Gewerblichen Berufsschule III die Schulbank<br />

drücken. In den "Jungarbeiterklassen", <strong>in</strong> denen Hilfsarbeiter und Arbeitslose zusammengefasst<br />

s<strong>in</strong>d. Alle vierzehn Tage sechs Stunden: Deutsch, Rechnen, Religion. Vielen ist die Berufsschule<br />

gleichgültig. Oft s<strong>in</strong>d die Klassen nur halb besetzt. Manche Schüler hat Studiendirektor Major<br />

überhaupt noch nicht gesehen. "Was will ich denn machen", fragt er, "Jobs habe ich auch ke<strong>in</strong>e.<br />

Dass die Jungs da ke<strong>in</strong>e Lust haben und aggressiv werden, kann ich verstehen."<br />

Die meisten von ihnen s<strong>in</strong>d arbeitslos, ohne jemals gearbeitet zu haben. Wie Detlef Sorga.<br />

Seit vier Monaten ist er auf Stellensuche. Jeden Morgen blättert der Junge <strong>in</strong> den Anzeigenteilen der<br />

Lokalzeitungen oder fragt beim Arbeitsamt nach Gelegenheitsbeschäftigungen. Niemand weiß,<br />

wann für den Brillenträger Sorga mit dem Nichtstun Schluss ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Monat oder auch <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Jahr. So lungert er tagsüber auf der Straße herum, spielt Fußball, flippert <strong>in</strong> Spielhallen. Von<br />

den Eltern kriegt er zehn Mark Taschengeld die Woche. Arbeitslosengeld bekommt er nicht.<br />

Darauf hat nur Anspruch, wer m<strong>in</strong>destens sechs Monate ununterbrochen gearbeitet hat. Manche<br />

se<strong>in</strong>er Leidensgenossen warten schon am frühen Nachmittag auf E<strong>in</strong>lass <strong>in</strong>s "Island", e<strong>in</strong>e<br />

Diskothek <strong>in</strong> der Dortmunder Bahnhofsgegend, wo Nutten und Zuhälter den Ton angeben.<br />

Mit der Jugendarbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist für Gerhard Ahl, Chef des Dortmunder<br />

Arbeitsamtes, "e<strong>in</strong>e Lage entstanden, die es noch nie gegeben hat". Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen<br />

bemühten sich im Jahr 1974 <strong>in</strong>sgesamt 74.000 Jugendliche vergebens um e<strong>in</strong>e Lehrstelle. Doch<br />

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