PDF (2,8 MB) - kunst verlassen
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Service-Kunst Anmerkungen<br />
Die antitheatrale Kultur im Sinne Sennetts oder Barishs<br />
leistet sich den Schauspieler, der sich auf der Bühne selbst des<br />
Chamäleontischen zeiht; sie leistet sich den Performer, weil<br />
er das „Erscheine als das, was Du bist!“ noch in ereignishafte<br />
Ostentation ummünzt. Christoph Schlingensiefs Rekrutierung<br />
begeisterte Jungwähler während der Aufführungen seines Berliner<br />
Wahlkampfzirkus, „Chance 2000“ wird erst dank dieser<br />
Voraussetzungen als jenes Dienstleistungstheater 57 verständlich,<br />
das es ist: Der messianische wie sozialromantische Aktivismus<br />
Schlingensiefs kann in der Aufführung ja nur deshalb höhere,<br />
d. h. gegen ästhetische wie politische Nachfragen immunisierte<br />
Weihen erlangen, weil er im Theater das Theater in Richtung<br />
Performance verläßt; deren Charisma ostentativer Verschränkung<br />
von Sichbefinden (bei Schlingensief: von politischem tua<br />
res agitur) mit Darstellung desselben (bei Schlingensief: mit<br />
Spektakularisierung, Trash und aggressivem Publikumseinbezug)<br />
garantiert dem Frischkonvertierten ja erst, daß er nicht nur einer<br />
Show beiwohnt. Die von der Performance entliehene, letztlich<br />
antitheatrale Verbindlichkeit erlaubt nun je nach Gemüt Brüskierung<br />
oder blinde Euphorie. Man wärmt sich an politisierender<br />
Initiation ohne Politik.<br />
Ironie der Gegensätze: Während Schlingensief sich zum<br />
dienstleistenden Anwalt sozial Marginalisierter gerade unter<br />
Zugrundelegung eines in Richtung Performance zielenden, also<br />
auf die unio mystica von Handeln und (Selbst-)Darstellen geläuterten<br />
Theaters erklären kann, genieren sich die Service-Künstler<br />
nicht nur, eine Vorgeblichkeit, sondern auch den Aufführungscharakter<br />
ihrer Projekte einzugestehen.<br />
Man könnte sogar einen zeitgenössischen,<br />
tendenziell entdifferenzierenden Begriff von „Theatralität“, wie<br />
58 So bei Erika Fischer Lichte: „Das System der theatralischen Zeichen“,<br />
Tübingen 1983, S. 195. Dieses Verständnis korrespondiert mit<br />
der für große Teile der Theaterwissenschaft maßgeblichen Auffassung<br />
von Klaus Lazarowicz. Im Vorwort zu einer neueren Sammlung seiner<br />
(z. T.) älteren Aufsätze wettert er gegen den gegenwärtigen „Pantheatralismus“,<br />
der nicht mehr streng scheide zwischen der theatralen Kom-<br />
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