10 | ÜberschriftAusgabe 1 | 2013Analyse der Wahlen zur 19. Knessetvon Johannes Gerloff, <strong>Jerusalem</strong>Nach ersten Hochrechnungen am Wahlabenddes 22. Januar 2013 rieben sich Fernsehkommentatorengenüsslich die Hände:Der Wähler hat „Bibi“ e<strong>in</strong>s ausgewischt.Benjam<strong>in</strong> Netanjahu, der bestgehasste M<strong>in</strong>isterpräsidentmit der stabilsten Regierung <strong>in</strong>der Geschichte Israels, musste e<strong>in</strong>e schmerzhafteWahlschlappe e<strong>in</strong>stecken. Rechts undL<strong>in</strong>ks stehen e<strong>in</strong>ander fifty-fifty gegenüber.Im israelischen Parlament herrscht Patt. Dererwartete Rechtsruck sei ausgeblieben, jubeltenvor allem ausländische Medien.Erst als gegen Wochenende auch die Stimmenvon Soldaten, Gefangenen und Diplomatenausgezählt waren, ergab sich e<strong>in</strong>eknappe Mehrheit für den „Rechtsblock“ von61 zu 59 Mandate. Bei näherem H<strong>in</strong>sehenstellt sich dann die Frage, ob der klare Hassauf „Bibi“ nicht manchem Beobachter denBlick getrübt hat.So gehören zum L<strong>in</strong>ksblock beispielsweiseelf arabische Knessetabgeordnete. Sie habennoch nie zu e<strong>in</strong>er Regierungskoalition gehört.Sodann f<strong>in</strong>den sich im L<strong>in</strong>ksblock zweiAbgeordnete der Kadima-Partei, deren VorsitzenderSchaul Mofaz Netanjahu im Novembere<strong>in</strong> zu lasches Vorgehen gegen denGazastreifen vorgeworfen hatte. „L<strong>in</strong>ks“ sollauch die neu gebildete HaTnu’ah mit sechsAbgeordneten se<strong>in</strong>, deren Chef<strong>in</strong> Zippi LivniZiehtochter des Siedlervaters Ariel Scharonist. L<strong>in</strong>ks ist die sozialdemokratische Arbeitspartei,die allerd<strong>in</strong>gs die meisten Siedlungen<strong>in</strong> den besetzten Gebieten gegründet hat.Und zum L<strong>in</strong>ksblock gehören die 19 Abgeordnetender neuen Yesch Atid-Partei vonYair Lapid. Damit bleiben als „echte“ israelischeL<strong>in</strong>ke gerade e<strong>in</strong>mal sechs Abgeordneteder Meretz.Yair Lapid, neuer Hoffnungsträger europäischerFriedenssehnsucht, hat se<strong>in</strong>e Wahlkampagneim Oktober mit e<strong>in</strong>er Rede zurAußenpolitik <strong>in</strong> der Siedlerstadt Ariel imHerzen Samarias eröffnet. Deutlicher hätteer sich nicht von der L<strong>in</strong>ken distanzierenkönnen, <strong>in</strong> die ihn heute so mancher Journalistgerne e<strong>in</strong>reihen würde. „Es gibt ke<strong>in</strong>eLandkarte, auf der Ariel nicht Teil des StaatesIsrael ist“, verkündete der fotogene Ex-TV-Moderator. Offen vertritt er, die Siedlungsblöckemüssten im Rahmen e<strong>in</strong>es Abkom-mens mit den Paläst<strong>in</strong>ensern <strong>in</strong> jedem Fallbei Israel bleiben. Im Gegenzug bietet er denPaläst<strong>in</strong>ensern nicht e<strong>in</strong>mal Territorium, dasvor 1967 bereits zu Israel gehört hatte – wiedas etwa Avigdor Lieberman vorgeschlagenhat. E<strong>in</strong>e Teilung <strong>Jerusalem</strong>s kommt für denWahlsieger Lapid nicht <strong>in</strong> Frage. Die israelischeHauptstadt repräsentiere „den Ethosdes Landes“, sei „der Grund dafür, dass dasjüdische Volk hier ist“.Mit diesen Aussagen vertritt Lapid nichtsanderes als Netanjahu oder Lieberman – undeben e<strong>in</strong>en überwältigenden Konsens <strong>in</strong> derisraelischen Gesellschaft. Könnten die Paläst<strong>in</strong>enserdas akzeptieren, hätten Sie spätestensim Jahr 2000 <strong>in</strong> Camp David von EhudBarak ihren Staat haben können. Problempunktan der Position Lapids ist, dass sienicht nur für die arabische Welt sondernauch für Europa <strong>in</strong>akzeptabel ist. Alle Siedlungsvorhaben,die <strong>in</strong> den vergangenen Monatenfür Furore um Israel gesorgt haben,werden von Lapid, nimmt man se<strong>in</strong>e Aussagenernst, unterstützt.Auch <strong>in</strong> punkto Iran ist der jüngste PolitkometIsraels ke<strong>in</strong>e Taube. So sagte er derNachrichtenagentur Reuters ohne Zaudern<strong>in</strong>s Mikrofon: „Sollte der Iran e<strong>in</strong>e Atombombebekommen, muss Israel etwas unternehmen.Es sollte dorth<strong>in</strong> gehen und dieAnlagen bombardieren.“ Wenn er im selbenInterview e<strong>in</strong>e Neuaufnahme der Gesprächemit den Paläst<strong>in</strong>ensern forderte, mag dasMusik <strong>in</strong> den Ohren se<strong>in</strong>er ausländischenZuhörer gewesen se<strong>in</strong>. De facto sagte Lapiddamit aber nichts anderes, als se<strong>in</strong>e KollegenLieberman und Netanjahu. Wieder mite<strong>in</strong>em Großteil der israelischen Gesellschaftim Rücken betonte er, Israel müsse „die Paläst<strong>in</strong>enserloswerden und e<strong>in</strong>en Zaun zwischenuns bauen“, um sich dann zu demschönen Satz h<strong>in</strong>reißen zu lassen: „Wir strebenmit den Paläst<strong>in</strong>ensern ke<strong>in</strong>e glücklicheEhe an, sondern e<strong>in</strong>e Scheidung, mit der wirleben können.“Apropos „Zweistaatenlösung“: Netanjahuund Lieberman waren die E<strong>in</strong>zigen, die dieseim Wahlkampf erwähnten – was der Vorsitzendender Arbeitspartei, Schelly Jachimowitsch,denn auch zum Vorwurf gemachtwurde. Ran Cohen von der Meretz-Partei istder Ansicht: „Die Israelis haben die Händegehoben, e<strong>in</strong>en Frieden mit den Paläst<strong>in</strong>ensernschlicht aufgegeben. Sie s<strong>in</strong>d enttäuscht!“Fragen, die aus europäischer Sicht essentiellfür Zukunft des Nahen Ostens sche<strong>in</strong>en,standen im Januar <strong>in</strong> Israel nicht zur Wahl,wurde im Wahlkampf noch nicht e<strong>in</strong>mal angesprochen,geschweige denn diskutiert.Ganz offensichtlich ist die europäische E<strong>in</strong>teilungIsraels <strong>in</strong> „rechts“ (d.h. hart mit rassistischerTendenz, siedlungswild, friedensunwillig)und „l<strong>in</strong>ks“ (d.h. gesprächsoffen,kompromissbereit, rückzugswillig) als Verstehenskrückefür das Denken der israelischenBevölkerungsmehrheit schlicht unbrauchbar.Mit den Wahlen zur 19. Knessethat sich der israelische Wähler hörbar undverständlich zu Wort gemeldet. Immerh<strong>in</strong>s<strong>in</strong>d 50 der 120 Knessetabgeordneten Neul<strong>in</strong>geim parlamentarischen Geschäft. Israelsundiplomatischer Ex-Chefdiplomat AvigdorLieberman hat vielleicht nicht Unrecht,wenn er me<strong>in</strong>t: „Die neue Regierung kannnur Erfolg haben, wenn sie sich am Willendes Volkes orientiert“ – und nicht an denEskapaden se<strong>in</strong>er Nachbarn oder Wunschvorstellungenbefreundeter Regierungen.Diese Wahlen waren e<strong>in</strong> „Sieg für die Bewegungfür soziale Gerechtigkeit“, wie Verteidigungsm<strong>in</strong>isterEhud Barak feststellte, unde<strong>in</strong>e klare Absage der israelischen Gesellschaftan die Ultraorthodoxen, wie e<strong>in</strong> sefardisch-orthodoxerSiedler aus den südlichenHebronbergen beobachtet. Die steigendenLebenshaltungskosten <strong>in</strong> Israel treiben dieMenschen auf die Straßen. Nicht umstrittenist die Frage, ob Israels Militär gegen erklärteFe<strong>in</strong>de aktiv werden soll, seien diese nunim Iran, im Libanon, <strong>in</strong> Ägypten oder <strong>in</strong> denPaläst<strong>in</strong>ensischen Gebieten. Die Bürger bewegt,wer dieses Militär unterhalten, werdrei Jahre Militär- und danach noch zweiJahrzehnte lang jedes Jahr e<strong>in</strong>en Monat Reservedienstleisten muss und bei alledemse<strong>in</strong> Leben aufs Spiel setzen soll.Bleibt die Frage: Was ist nur passiert, dassNetanjahu so schlecht abgeschnitten hat? ImRückblick s<strong>in</strong>d mehrere Gründe zu nennen:Am 25. Oktober 2012 verkündeten Netanjahu(Likud) und Lieberman (Israel Beite<strong>in</strong>u)die Fusion ihrer Wahllisten zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen:Likud-Beite<strong>in</strong>u. Nicht bedacht hatte
Ausgabe 1 | 2013| 11„Biberman“, dass <strong>in</strong> der israelischen Politike<strong>in</strong>s plus e<strong>in</strong>s nicht zwei, sondern e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halbs<strong>in</strong>d. Jedenfalls ließ sich der israelische Wählervon der E<strong>in</strong>heitsdemonstration der beidennicht bee<strong>in</strong>drucken.E<strong>in</strong> weiterer Grund für die Wahlschlappewar Netanjahus Siedlungspolitik. Zu Beg<strong>in</strong>nse<strong>in</strong>er Regierungszeit hatte er e<strong>in</strong> achtmonatigesSiedlungsmoratorium verkündet. Damitbestätigte er die Weltöffentlichkeit, die dieSiedlungen für das eigentliche Problem imNahostfriedensprozess hält, bewirkte e<strong>in</strong>Ende aller Verhandlungen mit den Paläst<strong>in</strong>ensernund verursachte den Siedlern vielÄrger, so dass diese – und viele ihrer Sympathisanten– zum „Bait HaYehudi“, dem „jüdischenHaus“, überliefen. Bereits nach demGazafeldzug „Wolkensäule“ im Novemberhatten die Umfragen e<strong>in</strong>en rapiden Abwärtstrendfür „Biberman“ verzeichnet. Das Volkmachte ihm zum Vorwurf, die militärischenAktionen zu früh e<strong>in</strong>gestellt und die Raketenfähigkeitender Hamas nicht wirklich zerstörtzu haben.Im vergangenen Sommer genoss Netanjahue<strong>in</strong> Popularitätshoch. Er holte Kadima <strong>in</strong> dieKoalition und hatte e<strong>in</strong>e goldene Chance, dieHerzen von Israels hart arbeitender, steuerzahlenderMittelschicht für sich zu gew<strong>in</strong>nen,sprich: die seit langem diskutierte Lastenverteilungvorzunehmen. „Stattdessenrannte er verängstigt Schass und dem Vere<strong>in</strong>igtenTorajudentum h<strong>in</strong>terher“, erklärt e<strong>in</strong>Likudmitglied das Wahldebakel.Und schließlich war da noch der Faktor, dassdie Wahl schon lange vor der Wahl längstentschieden schien. So me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong> Likud-Stammwähler im Süden von Tel Aviv: „Vergisses, Likud zu wählen. Bibi wird sowiesoPremier. Jetzt geht es darum, dass sich außerihm noch jemand um uns kümmert.“© Christlicher Medienverbund KEP,www.israelnetz.comW. BeyschlagDie Alternative– e<strong>in</strong>e heilsgeschichtlicheAuslegung von Römer 9 – 116,50 EuroBestell-Tel. 03727 2701Kommentar:„Jedem Volk se<strong>in</strong>e Regierung“Liebe Leser,<strong>in</strong> Deutschland begegnet mir immer wieders<strong>in</strong>ngemäß folgende Aussage: „Wir haben janichts gegen das israelische Volk, aber dieRegierung Israels…“ Auf diese E<strong>in</strong>leitungfolgt dann nicht selten e<strong>in</strong>e Kritik, die derUrheber prophylaktisch und möglichst umfassendgegen jeden Vorwurf des Antisemitismusabgesichert wissen möchte.Aber Israel ist tatsächlich e<strong>in</strong>e Demokratie.Das Volk Israel ist durchaus verantwortlichfür die Leute, die sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Knesset anschreien,gegenseitig mit Wasser begießen,den Holocaust <strong>in</strong> den unmöglichsten Situationenals Vergleich bemühen und sich überhauptnicht selten weit weniger würdigverhalten, als das Volksvertretern anstehensollte.Wenn Benjam<strong>in</strong> Netanjahu <strong>in</strong> den vergangenenvier Jahren e<strong>in</strong>er der stabilstenRegierungen <strong>in</strong> der Geschichte des modernenStaates Israel vorstand, dann hatte dasvor allem mit dem Rückhalt zu tun, den erim Volk besaß – oder vielleicht auch mit demMangel an Führungsalternativen, die dasVolk zu bieten hatte. Oft hatte er „dieschlechtesten Karten, die man sich vorstellenkann, auf die Hand bekommen, um sieblendend auszuspielen“ – wie e<strong>in</strong> Journalistenkollegeden Wahlausgang im Januarkommentierte: „Dieses Mal hatte er die bestenKarten auf der Hand, die man sichvorstellen kann – und hat sie so schlechtausgespielt, wie das ke<strong>in</strong>er erwartet hat.“Die schmerzhafte Quittung dafür hat er vomWähler <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er „gelben Karte“ bekommen.Regierung und Parlament Israels s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>treuer Spiegel der israelischen Gesellschaft,so me<strong>in</strong>e Beobachtung. Daran ändern auchdie <strong>in</strong> Europa so gern gehörten und von„Toute nation a le gouvernement qu’ellemérite“ – „jedes Volk hat die Regierung,die es verdient“ Joseph Marie de MaistreEuropa gut bezahlten israelischen Stimmennichts, die den Europäern das sagen, was siehören wollen.Wer also Kritik an der israelischen Regierungübt, mag ruhig beim Namen nennen, wer fürdiese Regierung verantwortlich ist: DieKnesset und das Volk, das se<strong>in</strong>e Vertreter <strong>in</strong>die Versammlung <strong>in</strong> <strong>Jerusalem</strong> entsandt hat.„Toute nation a le gouvernement qu’ellemérite“ – „jedes Volk hat die Regierung, diees verdient“. Dieser Satz des französischenPhilosophen Joseph Marie de Maistre (1753-1821) gilt nicht nur für Israel, sondern auchfür se<strong>in</strong>e Nachbarn. Der Konflikt <strong>in</strong> Syrienhat <strong>in</strong> den vergangenen zwei Jahren mehrTodesopfer gefordert, als der arabisch-israelischeKonflikt <strong>in</strong> den vergangenen siebenJahrzehnten. Die UNO spricht von mehr als60.000 Toten im syrischen Bürgerkrieg. InÄgypten wird die Angst vor e<strong>in</strong>em Bürgerkriegoffen ausgesprochen. Über den Zustandder Regierung <strong>in</strong> Jordanien darf nur ehrlichreden, wer bereit ist, sich als regierungsfe<strong>in</strong>dliche<strong>in</strong>stufen zu lassen. Damit will ichnicht jeden e<strong>in</strong>zelnen Syrer oder Ägypter fürdie furchtbare Heimsuchung se<strong>in</strong>er Heimatverantwortlich machen. Aber das Böse, das<strong>in</strong> der Region so grauenhaft ausbricht, ist denVölkern auch nicht e<strong>in</strong>fach nur von außenaufgezwungen worden.Leider wird nur selten e<strong>in</strong> gutes Volk vone<strong>in</strong>er bösen Regierung unterdrückt. Weithäufiger hält e<strong>in</strong>e Regierung das Böse imVolk notdürftig <strong>in</strong> Schach. Dabei s<strong>in</strong>d dieRegierenden nur selten besser als ihr Volk.Wichtig für unsere Analysen ist die Erkenntnis,dass „das Dichten und Trachten desmenschlichen Herzens böse ist von Jugendauf“ (1. Mose 8,21). Deshalb ist unser Gebetgefragt, für die Völker und ihre Regierungen– nicht nur hier im Nahen Osten.Mit herzlichem Schalom grüßt Sie aus<strong>Jerusalem</strong>, Ihr Johannes Gerloff© Johannes Gerloff, Christlicher MedienverbundKEP, www.israelnetz.com