16 | ÜberschriftAusgabe 1 | 2013„20 Thesen zum Gesprächsprozess, zurHermeneutik der Bibel und der Kirche“von OLKR Dr. Peter Meis vom 12.11.2012, kommentiert von Pfr. Mika J. Herold (Pleißa)Das Gespräch1. Ziel des Gesprächsprozesses ist nicht dieAufgabe von E<strong>in</strong>sichten, die vom eigenenoder dem Gewissen anderer geleitet werden.Wohl aber von Vor-Urteilen, deren Korrekturnur im genauen Hören aufe<strong>in</strong>ander gel<strong>in</strong>genkann.2. E<strong>in</strong> respektvolles Verstehen des Anderenbedarf angstfreier Räume. Vor theologischen,womöglich auch streitbaren Begründungensollte e<strong>in</strong> ehrliches Benennen unserer Sorgen,Unsicherheiten und Ängste stehen.3. Der Auftrag Jesu, „das sie alle e<strong>in</strong>s se<strong>in</strong>sollen“ (Joh. 17, 21) ist ke<strong>in</strong> Befehl, sonderne<strong>in</strong> Gebet. Es gilt der unsichtbaren Kirche,zielt aber auf e<strong>in</strong>e wahrnehmbare Verwirklichung<strong>in</strong> der sichtbaren Kirche.Dass <strong>in</strong> den Thesen zuerst auf den Gesprächsprozesse<strong>in</strong>gegangen wird, ist wederZufall noch absichtslos: In den ersten dreiThesen sollen die Grundregeln festgelegtwerden, nach denen e<strong>in</strong> Gespräch – nachAnsicht von OLKR Meis – ablaufen soll. NachOLKR Meis steht der Mensch und se<strong>in</strong>epersönlichen E<strong>in</strong>sichten, Vorurteile undÄngste an erster Stelle. Dieser eher psychologischeZugang ist für e<strong>in</strong> Gespräch um dieAuslegung des Wortes Gottes und die christlicheLebensführung ke<strong>in</strong>eswegs naheliegendund auch nicht zw<strong>in</strong>gend. Wieso das Gesprächmit dem „Hören aufe<strong>in</strong>ander“ beg<strong>in</strong>nensoll und nicht z.B. mit dem Hören aufdas Wort Gottes, ist nur dann selbstverständlich,wenn man davon ausgeht, dass das WortGottes ke<strong>in</strong>e klaren und unmissverständlichenAussagen trifft. Mit anderen Worten:Durch diese Setzung wird der Gesprächsprozess<strong>in</strong>direkt (und vielleicht auch unbeabsichtigt?)vorentschieden, bevor er beg<strong>in</strong>nt.OLKR Meis stellt jedes Thema – Schriftverständnis,christliche Identität oder auchKirche – bewusst <strong>in</strong> den Rahmen zwischenmenschlicherDiskussion. Die direkte Folgedavon ist, dass es nur noch persönliche undsubjektive Aussagen geben kann. Es geht bei6. Die geistliche Identität von Christen, die„so ges<strong>in</strong>nt s<strong>in</strong>d, wie es der Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong>Christus entspricht“ (Phil. 2, 5), lässt ethnische,soziale oder geschlechtliche Unterschiedeh<strong>in</strong>ter sich. Durch die Taufe giltvielmehr vor Gott (und <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de?):„Hier ist nicht Jude noch Grieche, nichtSklave noch Freier, nicht Mann noch Frau.“(Gal. 3, 28). Die Grundsatzentscheidung derersten drei Thesen, nämlich den Menschenan erste Stelle zu setzen, trägt se<strong>in</strong>e ersteAusprägung <strong>in</strong> der konkreten ethischenFrage nach der Beurteilung der Homosexualität.Da OLKR Meis nicht zuerst nach demWort Gottes gefragt hat, sondern nach derzwischenmenschlichen Sicht, folgt daraus <strong>in</strong>sich stimmig These 4: Die Aufnahme von„humanwissenschaftlichen Erkenntnissen“(er verschweigt, dass diese ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>heitlichs<strong>in</strong>d) und die Aufarbeitung <strong>in</strong>nerweltlichenUnrechts. Kritisch kann mananmerken, dass von der geforderten „Ause<strong>in</strong>andersetzung“e<strong>in</strong>es Theologen mit wissenschaftlichenErkenntnissen wenig zu spürenist: In These 5 wird e<strong>in</strong>fach übernommen,was die Humanwissenschaften verme<strong>in</strong>tlichbehaupten. Durch diese Übernahme kommtOLKR Meis nur zu e<strong>in</strong>er untheologischenDeutung des Themas Homosexualität. Ichnenne diese Deutung „untheologisch“, weilreformatorische Theologie und biblischeLehre nicht primär daran <strong>in</strong>teressiert ist, obetwas Krankheit, Veranlagung oder Folge derErziehung ist. Biblisch wird gefragt, ob etwasSünde ist oder nicht. Selbst die steile Behauptung,Homosexualität sei Veranlagung,entb<strong>in</strong>det nicht von der Frage, ob HomosexualitätSünde ist, denn nach der Bibel kannauch genetische Veranlagung Sünde se<strong>in</strong>:„Siehe, ich b<strong>in</strong> als Sünder geboren, undme<strong>in</strong>e Mutter hat mich <strong>in</strong> Sünden empfansubjektivenAussagen nicht um die Frage,wer recht hat und wer nicht, sondern nurum das „respektvolle Verstehen“. Hier wirdübersehen, dass die Glaubensaussagen derBibel nicht nach der „persönlichen“ Me<strong>in</strong>ung,den eigenen Ängsten oder Unsicherheitenfragen. Der dreie<strong>in</strong>ige Gott sprichtund der Mensch soll <strong>in</strong> Demut gehorchen,tut er es nicht aus Sorge (Mt 6,30), Furcht(Mt 8,26) oder Zweifel (Mt 14,31) nennt dieBibel das Kle<strong>in</strong>glauben. Wenn der Gesprächsprozessdie Vorentscheidungen von OLKRMeis übernimmt, kreist das Gespräch nurnoch um „Ansichten“ – nicht mehr um dasWort Gottes, das für sich universelle Geltungbeansprucht. Die 3. These bemüht sich, e<strong>in</strong>en„angstfreien Raum“ zu umschreiben.Richtig ist, dass es sich bei dem viel zitiertenWort aus Johannes 17,21 um e<strong>in</strong>en Ausspruchaus dem hohepriesterlichen GebetJesu handelt und daher ke<strong>in</strong> Auftrag ist.OLKR Meis unterschlägt jedoch, dass es imZusammenhang dieser Stelle um diejenigengeht, die dem Wort glauben; nur <strong>in</strong>sofern siedas tun, s<strong>in</strong>d sie auch <strong>in</strong> der Wahrheit (Johannes17,17). Diejenigen, die das Wort mitdem – alle<strong>in</strong> für Gottes Augen sichtbaren –Herzen empfangen, gehören zur verborgenenKirche, die <strong>in</strong> Wort und Sakrament sichtbarwird (vgl. These 15-20). Unmittelbar vordem Gebet spricht Jesus von dem „angstfreierRaum“, der nicht durch zwischenmenschlicheAktivität geschaffen wird, sondern nurdurch Christus selbst: „Das habe ich miteuch geredet, damit ihr <strong>in</strong> mir Frieden habt.In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost,ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)Christliche Identität undHomosexualität4. E<strong>in</strong>e veränderte Bewertung der Homosexualitätist ke<strong>in</strong>e Anpassung an den Zeitgeist,sondern Ausdruck auch humanwissenschaftlicherErkenntnisse sowie e<strong>in</strong>er Kultur, diemassive Unrechtserfahrungen zu behebensucht. Dieser Ause<strong>in</strong>andersetzung dürfensich auch Ethik und kirchliche Lehre nichtverschließen.5. Homosexualität ist ke<strong>in</strong>e Krankheit, sonderne<strong>in</strong>e Veranlagung. Insofern geht es umAnerkennung oder Verweigerung von Identität.Das Thema „Heilung“ kann sich alsonur auf seelische und soziale Verletzungen(aller) beziehen.
Ausgabe 1 | 2013| 17gen.“ (Ps 51,7) Selbst wenn HomosexualitätVeranlagung wäre (aber hier ist der humanwissenschaftlicheBefund ke<strong>in</strong>eswegs soe<strong>in</strong>deutig wie OLKR Meis zu me<strong>in</strong>ensche<strong>in</strong>t), wäre damit theologisch nochüberhaupt nichts ausgesagt. Die theologischeFrage beg<strong>in</strong>nt erst dort, wo gefragt wird, obdiese spezielle Krankheit, Veranlagung oderLebensweise dem Willen Gottes entsprichtoder ihm widerspricht. Diesbezüglich sei andie Lehre von der Erbsünde er<strong>in</strong>nert: Sündeist sogar ganz grundsätzlich „genetisch veranlagt“,aber das heißt mitnichten, das siedamit entschuldigt wäre.Für OLKR Meis folgt aus der Behauptung,Homosexualität sei Veranlagung, e<strong>in</strong>e ArtE<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft derChristen über den Begriff der „Identität“. Ertut gut daran, dies nicht explizit zu behaupten.Denn die geistliche Geme<strong>in</strong>schaft derChristen entsteht durch die Vergebung derSünden, die <strong>in</strong> der Taufe vollzogen wird (Gal3,27): „Denn ihr alle, die ihr auf Christusgetauft seid, habt Christus angezogen.“ Hiergibt es <strong>in</strong> der Tat ke<strong>in</strong>en Unterschied: Unterschiedslosjedem Sünder wird durch dieTaufe die Vergebung der Sünde geschenkt.Wer jedoch die eigene Sünde nicht bekennt,der verbleibt im Selbstbetrug ohne Zugangzum Wort Gottes (vgl. 1Joh 1,8+10).Vom Verstehen der Schrift7. Wir glauben nicht an die Bibel, sondernan den fleischgewordenen Gott. Weil er uns<strong>in</strong> menschlich vermitteltem Wort anredet, iste<strong>in</strong>e Hermeneutik (als „Lehre des Verstehens“)wichtig, deren Kriterien e<strong>in</strong>leuchtends<strong>in</strong>d.8. Kritiker des Kirchenleitungsbeschlussesmüssen erklären können, warum sie ausschließlichbei ausgewählten Schriftstellenzur Homosexualität dem Buchstaben folgen.Befürworter e<strong>in</strong>er verantworteten gleichgeschlechtlichenPartnerschaft müssen ihreSicht theologisch mit e<strong>in</strong>er schriftbezogenenHermeneutik begründen können.9. Bereits der biblische Kanon ist e<strong>in</strong> lebendigesKommunikationssystem, <strong>in</strong> dem verschiedenemündliche und schriftliche Überlieferungenkritisch mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>sGespräch gebracht, verändert und auf konkreteLebenslagen bezogen werden.10. In Dialog und Antithesen (etwa Matth.5,21; 2. Kor. 3,6) wird die Tradition bewahrtund verändert. Die E<strong>in</strong>heit der neutestamentlichenSchriften besteht (wie die derKirche) im geme<strong>in</strong>samen Zeugnis des tr<strong>in</strong>itarischenGlaubens.11. Als Verkündigungsgeme<strong>in</strong>schaft ist derKanon zugleich e<strong>in</strong>e Auslegungsgeme<strong>in</strong>schaft,die historische Grenzen bewussth<strong>in</strong>ter sich lässt.These 7 soll wohl dazu dienen, die Bedeutungder Bibel zu relativieren. Allerd<strong>in</strong>gsglauben wir an Jesus Christus - genauso wahraber ist auch, dass wir an das fleischgewordeneWort nur durch die Heilige Schriftglauben können. Die Grundsatzentscheidungvon OLKR Peter Meis, den Menschen an dieerste Stelle zu setzen, prägt auch se<strong>in</strong> Schriftverständnis.Für ihn ist e<strong>in</strong>e Verstehenslehrenotwendig, die sich zwischen die Bibel undden e<strong>in</strong>zelnen Christen schiebt. Scharf hatdas schon der Philosoph Odo Marquard kritisiert:„Hermeneutik ist die Kunst, ause<strong>in</strong>em Text herauszukriegen, was nicht dr<strong>in</strong>steht:wozu – wenn man doch den Text hat– brauchte man sie sonst?“ (aus se<strong>in</strong>emAufsatz: „Frage nach der Frage, auf die dieHermeneutik die Antwort ist“ <strong>in</strong>: Odo Marquard,Abschied vom Pr<strong>in</strong>zipiellen, Recalm1981, S. 117) Nur weil Gottes Wort„menschlich vermittelt“ ist, muss Hermeneutiknicht zwangsweise menschlich e<strong>in</strong>leuchtendeKriterien haben. Dies möchte ichmit e<strong>in</strong>em Vergleich veranschaulichen: Umdie Botschaft, die e<strong>in</strong>e Brieftaube überbr<strong>in</strong>gt,zu verstehen, muss ich nicht unbed<strong>in</strong>gt etwasüber Brieftauben wissen. Es kommtnicht darauf an, den „Vermittler“ besser zuverstehen, sondern den „Absender“. Nachbiblischem Selbstzeugnis gel<strong>in</strong>gt das nichtdurch e<strong>in</strong>leuchtende Kriterien, sondern nurdurch den Heiligen Geist, der e<strong>in</strong>e Unmittelbarkeitzum Wort herstellt, die OLKR Meisnicht benennt. Jeder Bibelkreis <strong>in</strong> der Kirchgeme<strong>in</strong>deund jede private Frömmigkeit lebt<strong>in</strong> solcher Unmittelbarkeit: Jeder Christ kannselber das Wort Gottes lesen und unmittelbarverstehen, ganz ohne sich zunächst „e<strong>in</strong>leuchtendeKriterien“ e<strong>in</strong>er Hermeneutikgeben zu müssen. These 8 lohnt der genauenWahrnehmung. Hier wird unterstellt, dieKritiker würden nur bei ausgewählten Bibelstellendem Buchstaben folgen. Wenn demso wäre, wäre es freilich verkehrt, denn lutherischrichtig ist, das der Wortlaut („sensusliteralis“) grundsätzlich <strong>in</strong> jeder Frage befolgtwird. Interessant ist, dass hier <strong>in</strong>direkt ausgesagtwird, dass die „Kritiker“ bibeltreus<strong>in</strong>d, die Befürworter h<strong>in</strong>gegen ihre Positionzunächst e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>er schriftbezogenenHermeneutik begründen müssen.Die Thesen 9-11 reißen die Frage nach dembiblischen Kanon an; es hat jedoch m.E.wenig S<strong>in</strong>n, an dieser Stelle alle damit zusammenhängendenFragen aufzurollen.Es kommt nicht darauf an, den „Vermittler“besser zu verstehen, sondern den„Absender“.Letztlich sche<strong>in</strong>t OLKR Meis auch diesThema nur anzudeuten, um wiederum dieGültigkeit der Heiligen Schrift e<strong>in</strong>zuschränken.Auch so schön kl<strong>in</strong>gende Worthülsenwie „lebendiges Kommunikationssystem“oder „Auslegungsgeme<strong>in</strong>schaft“ vermögennicht zu überdecken, dass es ihm selberschwer fällt, neben allen unterschiedlichenKlängen e<strong>in</strong> harmonisches Gesamtzeugnisder Heiligen Schrift zu hören. Stattdessensche<strong>in</strong>t er <strong>in</strong> der Bibel wiederum das zuf<strong>in</strong>den, was er zuvor vom Diskussionsprozessforderte: Die Vielzahl nebene<strong>in</strong>ander stehenderStimmen, die respektvoll den anderenstehen lassen.Der Mensch und das Zusammenleben12.Biblisch ist der Mensch ganzheitlichSünder oder Gerechter. Das reformatorische„zugleich“ (simul justus et peccator) me<strong>in</strong>tnicht „von jedem e<strong>in</strong>e bisschen“, sonderne<strong>in</strong>e unterschiedliche Blickrichtung: Gerechtb<strong>in</strong> ich ganz im Blick auf Christus, ganzSünder im Blick auf mich selbst.13.Die Sexualität ist ke<strong>in</strong> eigenständigesThema dieser anthropologischen Doppelbestimmung.Auch Paulus hebt <strong>in</strong> Röm 1,18-32die ihm bekannte Praxis der Homosexualität(vgl. 1. Kor. 6,9) nur als e<strong>in</strong>e von vielen(nicht ger<strong>in</strong>geren) Sünden hervor. Im heutigenS<strong>in</strong>n ethisch und vor Gott verantwortetegleichgeschlechtliche Partnerschaftens<strong>in</strong>d biblisch nirgendwo im Blick.14.Die Schöpfungsberichte s<strong>in</strong>d auf Geme<strong>in</strong>schaftund Fortpflanzung ausgerichtet,schweigen aber über andere Lebensformen.Gewährt nicht auch Jesus e<strong>in</strong>en geheimnisvollenSpielraum <strong>in</strong> der SchöpfungsordnungGottes (vgl. u.a. Matth. 19,12)?