54Im Verlauf <strong>einer</strong> Strukturbestimmung passen wir ja ein Modell an eine experimentell bestimmteElektronendichteverteilung an. Die Größe der Elektronendichte am Ort eines Atoms hängt dabeiprimär von der Anzahl der Elektronen des betreffenden Elementes ab. Dies ist auch der Grund dafürdaß zwischen im Periodensystem benachbarten Atomen nur schwer unterschieden werden kann. Dieswird um so schwieriger, je mehr Elektronen diese Elemente besitzten. Schwingen jetzt die Atome umihre Gleichgewichtslage ist die Elektronendichte am Ort des Atoms über einen größeren Bereich verteilt(verschmiert) als wenn das Atom in völliger Ruhe wäre. Der Temperaturfaktor beschreibt nun dasAusmaß der Verschmierung. Je stärker ein Atom schwingt, d. h. je größer dessen Auslenkung ist, umso größer ist der Bereich, über den dessen Elektronendichte verteilt ist und um so größer ist dessenTemperaturfaktor. Der Temperaturfaktor eines Atoms hat, je nach Temperatur, charakteristischeWerte. Abweichungen davon deuten beispielsweise auf eine enorme Schwingung oder Unordnungdieses Atoms hin, oder geben Hinweise darauf, daß dem Elektronendichtemaximum eine falscheAtomsorte zugeordnet worden ist. Ordnen wir beispielsweise einem Elektronendichtemaximum,welches von einem Kohlenstoffatom herrührt ein wesentlich elektronenreicheres Element zu, soordnen wir dieser Position wesentlich mehr Elektronendichte zu, als tatsächlich dort lokalisiert ist.Dies führt dazu daß der Temperaturfaktor dieses Elements unrealistisch groß wird. Ordnen wir <strong>einer</strong>Position an dem sich ein extrem elektronenreiches Element befindet, ein sehr elektronenarmesElement zu, so wird der Temperaturfaktor zu klein berechnet. Dies schlägt sich auch in der Qualitätder Strukturverf<strong>einer</strong>ung, d. h. dem R-Wert nieder. Bei sehr guten Daten sollte dieser für eine falscheAtomsorte schlechter, d. h. größer sein, als für die richtige. Bei extrem schweren Elementen werdendiese Unterschiede jedoch meist so gering, daß weder über den Temperaturfaktor noch über den R-Wert sicher entschieden werden kann ob das Element richtig zugeordnet worden ist oder nicht. Hierkann nur eine Elementaranalyse helfen. Das bedeutet, daß der Wert des Temperaturfaktors in unsererStrukturverf<strong>einer</strong>ung nicht nur von der Temperatur, sondern auch von der dieser Positionzugeordneten Elektronendichte abhängt. Wenn dieser Sachverhalt genauer betrachtet wird, ist derBegriff des Temperaturfaktors noch aus einem zweiten Grund mißverständlich.Temperaturfaktoren (Temperaturparameter), welche aus <strong>einer</strong> Röntgenstrukturanalyse erhalten wordensind repräsentieren genaugenommen eine durchschnittliche Elektronendichteverteilung von Atomen,gemittelt über Raum und Zeit. Da sich ein Röntgenexperiment in der Regel über mehrere Tageerstreckt, kann nur eine über zahllose Anzahl von Schwingungsperioden gemittelte Struktur erhaltenwerden. Zusätzlich wird die verwendete Strahlung an Millionen von Elementarzellen gebeugt, vondenen angenommen wird, daß die Orientierung der darin enthaltenen Moleküle oder Atome in jederElementarzelle identisch ist. Da sich die Atompositionen von Elementarzelle zu Elementarzellegeringfügig unterscheiden können (Unordnung), wird auch hier eine ausschließlich gemittelte Strukturüber kleine sowie große Bereiche statischer Unordnung erhalten. Daher läßt sich allein auf Grund vonGröße und Richtung der anisotropen Auslenkungsparameter nicht a priori entscheiden ob es sich umeine tatsächliche Temperaturbewegung oder um eine statische Unordnung handelt (Abb. 10.2).
55SchwingungsrichtungRöntgenstrahlZeitResultierendeElektronendichte-VerteilungRöntgenstrahlElementarzellenAbb. 10.2:Verschmierung der Elektronendichte, d. h. große Auslenkungsparameter infolge vonTemperaturbewegung (oben) und Unordnung (unten).Neben der Festkörper-NMR-Spektroskopie können hier temperaturabhängige Bestimmungen derKristallstruktur mit Röntgen- oder Neutronenbeugung Aufschluß geben. Auf Grund des zu tieferenTemperaturen hin zunehmenden Einfrierens von Molekülschwingungen nehmen die Amplituden(MSDA; mean-square displacement amplitudes) der anisotropen Auslenkungsparameter wesentlichstärker ab, als dies bei statischer Unordnung der Fall sein sollte.Falsche Atomsorten, große Temperaturbewegung und Unordnung haben einen großen Einfluß auf diein unserem Experiment bestimmten “Bindungslängen“. Da in der Röntgenstrukturanalyse der Mittelpunktder Elektronendichteverteilung bestimmt wird und nicht etwa der Abstand der Atomkerne voneinander,können die berechneten Abstände der Atome nicht direkt mit den tatsächlichen Abständengleichgesetzt werden. Eine Änderung der Elektronendichteverteilung bringt unweigerlich eine Änderungdes Abstandes mit sich. Dies ist der Grund dafür, daß die X-H-Bindungslängen bei Röntgenstrukturanalysenin der Regel zu kurz bestimmt werden, da der Mittelpunkt der Elektronendichte einesWasserstoffatoms immer in Richtung des Schweratoms verschoben ist. Ist der Chemiker an genauenWasserstoffatomabständen interessiert, muß beispielsweise eine Strukturbestimmung mit der Neutronenbeugungerfolgen.Auch Schwingungen der Moleküle in einem Kristall besitzen einen Einfluß auf die Elektronendichteverteilungund damit auch auf die Atompositionen und beeinträchtigen dadurch die berechnetenBindungsabstände. Die Atomabstände sind hier in Richtung der Rotationsachse verschoben, was sichrelativ einfach zeigen läßt (Abb.10.3). Besitzt die Amplitude der Libration eines Atoms den Betrag ω,so errechnet sich dessen radiale Auslenkung zu dω 2 /2, wobei d den Abstand des Atoms von der Rotationsachsebezeichnet. Dies äußert sich darin daß die Bindungslängen, welche bei Raumtemperatur bestimmtwerden, meist zu kurz sind und sich zu tieferen Temperaturen hin normalisieren.