Download PDF 'Alle Geschichten' - Deutsche Guggenheim
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Name: Pauline Wischhusen<br />
Gestrandete Engel können auch weinen<br />
Flavilla schlug die Augen auf und sah nichts, nur schwarz um sie herum. Nein, so war das<br />
nicht richtig, nicht nur schwarz. Am Himmel stand ein großer runder weißer Ball, der alles in<br />
ein trübes Grau wandelte. Langsam kamen ihre Erinnerungen zurück, und Flavilla begann zu<br />
begreifen, dass die Strafe, die ihr auferlegt worden war, nun vollzogen war. Doch noch<br />
konnte sie sich nicht des ganzen Ausmaßes der Strafe bewusst werden. Denn sie war sich<br />
nicht einmal sicher, wo sie gerade war. Doch wie konnte es eigentlich soweit kommen?<br />
Eigentlich hatte sie als Engel immer gute Arbeit geleistet. Sie war zu den Menschen<br />
gegangen, wenn sie sich allein gefühlt haben und hat ihnen ganz sanft eine Hand auf die<br />
Schulter gelegt. Natürlich konnten die Menschen die Berührung nicht spüren, doch trotzdem<br />
wurde sie wahrgenommen. Doch dieses Mal war sie zu spät gekommen, sie hatte ihren<br />
Schützling nicht mehr retten können. Er hatte sich von einer Brücke gestürzt, obwohl seine<br />
Zeit noch nicht gekommen war. So etwas durfte nicht passieren und war auch seit hundert<br />
Jahren nicht passiert. Klar, Selbstmorde gab es ständig, doch bei diesen Menschen war die<br />
Zeit abgelaufen und der Todesengel hatte zuviel zu tun, um noch einen Unfall herauf zu<br />
beschwören. So war Flavilla in Ungnade gefallen und ein Erzengel war zu ihr gekommen und<br />
hatte verkündet, dass sie für die nächsten fünfzig Jahre verbannt sei.<br />
Nun stand sie hier im Hauseingang einer ziemlich heruntergekommen<br />
Menschenhaussiedlung. Es waren immer kleine Plattenbauten von zwei Stockwerken mit je<br />
höchstens zwei Zimmern. Nun vernahm sie auch Stimmen, keine so schönen lieblichen, wie<br />
Flavilla sie sonst kannte, sondern Menschenstimmen. Sie sah sich um und erblickte<br />
Menschen, die draußen vor ihren Häusern standen oder saßen und sich unterhielten.<br />
Langsam merkte sie, wie es heller wurde um sich herum, doch es war noch immer alles in<br />
grau gehalten. Vorsichtig machte sie einen kleinen Schritt nach vorne. Dabei rutschte ihr ein<br />
Rucksack von der Schulter, sie öffnete ihn und sah darin einen Schlüssel und einen<br />
Schokoriegel. Sie nahm den Schlüssel heraus und ging zu der Tür, zu der sie blickte. Sie<br />
steckte den Schlüssel ins Schloss, er passte, dann drehte sie ihn und öffnete vorsichtig die<br />
Tür. Auch hier war alles grau und Flavilla dachte, dass sie wohl nie verstehen würde, wie<br />
jemand dieses Leben dem Tod vorziehen konnte und in diesem Moment begriff sie, warum<br />
sich ihr Schützling in die Tiefe gestürzt hatte. Am liebsten hätte sie es ihm nach getan, doch<br />
es hätte nichts gebracht, das wusste sie, denn sie war für die nächsten fünfzig Jahre an<br />
dieses Leben gebunden. Doch dieser Gedanke machte sie wahnsinnig. Sie begann zu