Download PDF 'Alle Geschichten' - Deutsche Guggenheim

unmöglich konnte sie dieses Kind behalten. So ging sie in den Wald, abseits des Dorfes und
suchte eine Stelle aus, an der ihr Kind ganz in Ruhe einschlafen sollte. Sie durfte es nicht
länger anschauen, ihr fiel dieser Abschied schon schwer genug. Als sie sich sicher war, ganz
alleine zu sein, sang sie ein Lied. Sie sang dieses Gute-Nacht-Lied mit so viel Kraft, dass es
fast göttlich klang. Als ihr kleiner Junge gleichmäßig, tief und ruhig atmete, nahm sie ihre
zitternde Hand und hielt sie vor Mund und Nase des kleinen Säuglings. Nach kurzer Zeit war
es ganz still, kein Atemzug war mehr wahrzunehmen. Sie grub eine kleine Grube, in die sie
das friedlich aussehende Kind legte. Dann ging sie langsam zurück in das Dorf. Keiner fragte
nach dem Kind, sie wurde nur verspottet, und der Spott nahm auch kein Ende, als Jahre
vergangen waren. So strich das Leben von Holga dahin, bald lebte sie alleine in dem kleinen
Haus ihrer verstorbenen Eltern, ihre Geschwister waren alle fort gegangen. Sie war einsam,
sie hasste jene Blicke, jenes Getuschel über ihre Person. Jeden Morgen ging sie in den
Wald und setzte sich auf eine Bank neben dem „Grab“ ihres Sohnes.
Auch an diesem dunklen Novembertag. Von dem Grab ist mittlerweile nichts mehr zu sehen,
denn dort liegen heute abgesägte Baumstämme. Holga richtet ihren Blick auf diese, sie zählt
ihre Lebensringe, alle durften länger leben als ihr Sohn. Auf diesen Baumstämmen liegt ein
kleines Steinkreuz. Es soll als Andenken für das gelten, was tief unter den Baumstämmen
liegt, es soll als Andenken gelten, für den Mord an einem Säugling und es soll als Andenken
gelten für eine Frau, die ihr Kind so sehr geliebt hat, dass kein Tag vergeht, ohne den
Schmerz zu vergessen, den sie sich selber antun musste um überleben zu können. Sie
liebte das Kind, dass sie nicht hätte lieben dürfen, das Kind, dass sie zunächst nicht als ihr
Kind anerkennen wollte. Das Kreuz stammt von Holga.