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Download PDF 'Alle Geschichten' - Deutsche Guggenheim

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Name: Philipp Jakob<br />

Alter: 15 Jahre<br />

Schule: Merian-Schule<br />

Die Kühlkammer<br />

In der Bahnhofstraße gibt es schon seit Jahren einen leer stehenden Laden, der nicht<br />

gerade auffällt, aber doch nicht zu übersehen ist. In diesem Laden, in dem schon eine<br />

Metzgerei, ein Restaurant und eine Eisdiele ihren Platz gefunden hatten, war weit hinten,<br />

neben den Toiletten, eine Kühlkammer. Es gibt sicher unzählige Geschichten, die uns diese<br />

Kammer erzählen könnte, was sich schon alles dort abgespielt hat und was sie für sich<br />

behalten sollte. Wie werden wohl die Personen gelebt haben, die in diesem Laden tätig<br />

waren?<br />

Ich stelle mir den Metzger so vor: morgens, wenn es noch dunkel auf den Straßen ist, sehe<br />

ich ihn in der Kühlkammer, eine Lampe leise schwingend über seinem Kopf, mit einem<br />

nichts sagenden Gesichtsausdruck an einem im Licht glänzendem Metalltisch stehend.<br />

Es ist gerade mal fünf Uhr, er hat noch Schlaf in den Augen, nur Stille in der Kammer, außer<br />

dem lauten, schweren Atmen des Mannes. Um ihn herum liegt noch Fleisch, was er zu<br />

Wurst verarbeiten muss. Er verdient nicht viel mit seinem Beruf. Er hat ein altes, hellblaues<br />

Hemd mit Fettspritzern an, eine schwarze Lederhose mit vielen offenen Stellen, um seinen<br />

dicken Leib eine weiße Schürze gebunden, an der das Blut der toten Tiere klebt, die Tag für<br />

Tag vor ihm auf dem Metalltisch liegen.<br />

Sein Tagesablauf sieht fast immer gleich aus. Morgens in aller Frühe um vier Uhr steht er<br />

auf, wäscht sich und geht dann die fünfhundert Meter zu Fuß zur Arbeit; dann schuftet er bis<br />

fast in die Nacht, und erst um einundzwanzig Uhr kommt er nach Hause.<br />

Er schaltet dann immer den Fernseher ein und schaut sich alte Videos von seiner Frau und<br />

seiner Tochter an, die schon vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen. Jeden Tag<br />

seines Lebens wünscht er sie sich wieder bei sich, doch nach täglicher langer Trauer weiß<br />

er, dass er bald zu ihnen kommen wird. Er spürt im Innersten, dass es ihnen gut geht und er<br />

sich keine Sorgen machen muss.<br />

Nach dem Abendbrot legt er sich einsam in sein kaltes Bett und versucht zu schlafen, und<br />

am nächsten Tag fängt der Alltagstrott von neuem an. Irgendwann, in ein paar Jahren, will er<br />

seine Metzgerei an der Ecke aufgeben und aufs Land ziehen, denn…<br />

Es gibt viel zu viele Menschen, die sich nach der Zeit richten und alles vergessen und<br />

verwerfen, anstatt das Schönste auf der Welt in der „Zeitlosigkeit” zu genießen.

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