Download PDF 'Alle Geschichten' - Deutsche Guggenheim
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Name: Annika Feyerabend<br />
Alter: 15 Jahre<br />
Schule: Friedrich-Ebert-Oberschule<br />
Night<br />
Es ist dunkel. Um mich herum ist alles dunkel. Irgendwo hier unter dieser Brücke sind noch<br />
andere, ich bin nicht allein. Nicht wirklich. Ich richte mich auf und setze mich hin. Es ist<br />
wieder eine dieser Nächte, die nie enden wollen, eine dieser Nächte, in denen die Zeit<br />
anhält. In ebenso einer Nacht verlor ich alles, was mir jemals etwas bedeutet hat. Es ist<br />
schon über 20 Jahre her und ich weiß alles noch genau. Als würde ich diese Nacht je<br />
vergessen, wie könnte ich. Ich war damals jung, jung und hübsch und hatte noch Träume.<br />
Ich träumte vom perfekten Leben. Den perfekten Mann hatte ich schon, und das perfekte<br />
Kind war unterwegs. Damals war ich glücklich.<br />
Tim und ich lernten uns in der Schule kennen, nach unserem Abschluss zogen wir<br />
zusammen, heirateten und ich wurde schwanger. Wir hatten nicht viel Geld, kamen aber<br />
über die Runden. Doch dann verlor Tim seinen Job, ich konnte wegen der Schwangerschaft<br />
schon lange nicht mehr arbeiten und das Geld wurde knapp. Ich bekam das Baby, ein<br />
wunderschönes Mädchen, das wir Melanie nannten, doch Tim wurde immer launischer, da<br />
das Geld einfach nicht reichte und er keinen neuen Job fand. Er war nie der gewalttätige Typ<br />
gewesen, doch irgendwann fing er an, mich zu schlagen. Erst waren es nur leichte Schläge,<br />
für die er sich sofort wieder entschuldigte, doch auch das änderte sich nach und nach. Ich<br />
konnte mich niemandem anvertrauen, hatte zu viel Angst, er würde mich verlassen und<br />
meine Kleine mitnehmen. Fragen zu blauen Flecken wich ich aus und hoffte weiter, dass<br />
alles bald wieder besser werden würde, doch es wurde nur noch schlimmer. Tim wurde<br />
weiterhin überall abgewiesen, wo er sich bewarb und fing an, seinen Frust im Alkohol zu<br />
ertränken, was ihn nur noch aggressiver machte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus,<br />
nahm Melanie und floh in ein Frauenhaus. Dort konnten wir eine Weile bleiben und uns<br />
verstecken. Das Frauenhaus fand eine Arbeit und eine Wohnung für uns, sodass wir wieder<br />
selbstständig lebten. Doch eines Nachts stand Tim vor der Tür, stürmte hinein, tobte und<br />
schrie, Melanie wachte auf und fing an zu weinen, was ihn nur noch wütender machte. Er<br />
schlug mich, so heftig wie noch nie, schlug immer weiter auf mich ein bis ich ohnmächtig<br />
wurde. Als ich wieder aufwachte, war er verschwunden, er hatte Melanie mitgenommen. In<br />
dieser Nacht brach meine Welt zusammen, alles was ich mir je gewünscht hatte, war<br />
verschwunden oder zerstört. Von diesem Tag an war die Straße meine Heimat, insgeheim<br />
hatte ich gehofft zu sterben, doch ich lebte weiter.