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Name: Isabelle Knörr<br />

Alter: 13 Jahre<br />

Schule: Albrecht-Dürer-Oberschule<br />

Night<br />

Jane schlang sich ihr Umhängetuch fester um die Schultern, doch die Kälte kroch durch jede<br />

noch so kleinste Ritze ihrer Kleidung und ließ sie frösteln. Sie wusste nicht genau, wie lange<br />

sie hier schon saß, schlaflos, frierend. Einige Stunden mochten es sein. Drei oder vier<br />

vielleicht. Jane wusste es nicht, und eigentlich war es ihr auch mehr oder weniger egal.<br />

Früher, ja, da hätte sie vielleicht genau gewusst, wie spät es war und vielleicht hätte sie<br />

sogar versucht, einen wärmeren Platz für die Nacht zu suchen, doch mit ihren knapp 62<br />

Jahren war sie schlicht und einfach zu müde dazu. Zu lebensmüde wahrscheinlich. Jane<br />

kicherte leise und erschrak gleich vor sich selbst. Wie konnte sie in so einer Situation<br />

Belustigung empfinden? War es, weil ihr ganzes Leben eigentlich nur ein Witz war? Als<br />

Tochter einer Obdachlosen geboren, von Kindsbeinen an das harte Leben auf den Straßen<br />

von Paris gewöhnt? Eins ums andere Mal musste Jane eingestehen, dass sie es eigentlich<br />

nicht wusste, und viel Lust, weiter darüber nachzudenken, hatte sie eigentlich auch nicht.<br />

Sie war müde und konnte dennoch nicht schlafen, alle zehn Minuten ratterte auf der Brücke<br />

über ihr eine Métro hinweg. Ein wenig neidisch blickte Jane zu Hugo und Marta, die beide<br />

tief und fest schliefen. Hugo lächelte im Schlaf, anscheinend träumte er etwas Schönes. Als<br />

Jane in Hugos Gesicht sah, verzog auch sie die Mundwinkel leicht nach oben. Sie stand ein<br />

wenig schwerfällig auf und setzte sich wieder neben dem Jungen hin. Sanft strich sie ihm<br />

über das wirre, dunkelbraune Haar. Wie groß er geworden war, seitdem sie ihn und seine<br />

Schwester vor drei Jahren gefunden hatte. Hugo war damals elf Jahre alt, Marta sieben und<br />

der Junge hatte mit allen ihm möglichen Mitteln versucht, sich und seine Schwester auf der<br />

Straße durchzubringen. Doch Jane war sich sicher, hätte sie die beiden nicht mit sich<br />

genommen, wären sie eines jämmerlichen Todes gestorben, der vielleicht noch schlimmer<br />

gewesen wäre, als das Leben, das sie führten. Verhungert, erfroren.<br />

Schon damals hatte Jane sich Sorgen gemacht, was wohl mit Hugo und Marta passieren<br />

würde, wenn sie eines Tages nicht mehr aufwachte und mit der Zeit war dieses Gefühl<br />

stärker geworden. Sie war schon recht alt für eine Obdachlose, die meisten gaben auf,<br />

wenn sie um die 50 waren. Doch auch wenn sie noch zwei, mit etwas Glück drei Jahre<br />

leben könnte, würde ihr das Sterben, so komisch es klang, nicht leicht fallen, denn sie ließ,<br />

im Gegensatz zu vielen anderen, jemanden auf dieser Welt zurück.

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