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WerDer_Charly_1

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Fortschrittlich hingegen war der tägliche ganz private Gang zur<br />

„petite toilette“, d. h. in ein Kabäuschen, wo sich nur ein Bidet befand<br />

Neu für mich war auch das Einkaufen auf dem Markt. Ich lernte Artischocken kennen, entsetzte mich darüber,<br />

dass die Kundschaft ungeniert auf dem Camembert herumdrückte, um den Reifegrad festzustellen, und ich staunte,<br />

dass die gesalzene Butter offen verkauft wurde. Von einem Mocken, der aussah wie ein riesiger Mohrenkopf, wurde<br />

mit einem dünnen Draht die gewünschte Menge abgesägt. Um 12 Uhr ging die Sirene los, was mich das erste Mal<br />

sehr erschreckte, und der Markt war beendet. Und da waren noch „les baguettes“, die wir täglich in der Bäckerei um<br />

die Ecke einkaufen gingen. Stets zerbrachen davon ein paar und waren dann erstaunlicherweise kürzer. Ich hab mir<br />

in diesem Jahr zehn Kilo angefressen!<br />

Frankreich hatte sich so weit vom Krieg erholt, dass man nicht mehr hungern musste. Es gab aber noch<br />

vieles, was an die schreckliche Zeit erinnerte, nicht nur das Monument de la guerre mit den Namen aller Gefallenen<br />

der beiden Kriege. Von der Kirche in der Stadt stand nur noch der Turm, und die Messe wurde in einer zügigen<br />

Holzbaracke gehalten. Einmal kam ich an einem riesigen, trichterförmigen Loch vorbei, so etwas wie eine kleine<br />

Kiesgrube, aber es war ein Bombenloch. Trappes war wie gesagt der Güterbahnhof von Paris und war entsprechend<br />

bombardiert worden. Inzwischen fuhren die Züge wieder, und das "Tschschpfff, Tschschpfff, Tschschpfff" der<br />

Dampfloks lullte mich jeden Abend in den Schlaf.<br />

Es war aber auch die Zeit des Algerienkrieges. Ich erinnere mich an eine junge, schwarz gekleidete Frau, die<br />

weinte, als sie der Kindergartenschwester ihr dreijähriges Mädchen übergab. Die Kinder gingen schon mit drei<br />

Jahren in den Kindergarten, und ich war für die jüngsten zuständig. Die Vier- und Fünfjährigen wurden von der<br />

Klosterfrau betreut. Das war eine schöne Aufgabe, mit diesen Kindern habe ich recht schnell Französisch gelernt.<br />

Einmal an einem Sonntag durften wir nach Paris an ein Konzert in der Sacré Coeur. Wie verzaubert stand ich<br />

vor dieser monumentalen weissen Basilika. Drinnen dann funkelte das riesige Goldmosaik in der Nachmittagssonne,<br />

und eine glockenreine Sopranstimme erfüllte den ganzen Kirchenraum.<br />

Sommer: Les grandes vacances! Juli und August sind Schulferien in Frankreich. Gleich Anfang Juli 1959<br />

fuhren wir zusammen mit drei Nonnen und einer riesigen Schar Mädchen aus Trappes und Umgebung in die<br />

Ferienkolonie nach Blainville-sur-Mer am Ärmelkanal. Hier sah ich zum ersten Mal das Meer, dessen Wellen aus<br />

weiter Ferne heranrollten und plötzlich da waren mit grossen Schubwellen, in die wir hineinsprangen und uns<br />

überspülen liessen. Das Meer, das sich langsam wieder weit hinaus zurückzog und eine riesige Sandfläche<br />

hinterliess, bot uns die Möglichkeit, Muscheln zu suchen und Sandburgen zu bauen. Ich war Leiterin einer kleinen<br />

Gruppe. Wegen der Gezeiten waren wir zwei Wochen morgens und zwei Wochen nachmittags am Meer.<br />

Wir wohnten in einem alten dreistöckigen Steinhaus, der Speisesaal war draussen, ein riesiges Zelt! Und immer<br />

stand feine Limonade auf dem Tisch, nicht nur das übliche, sondern ein mit einem gelbbraunen Konzentrat<br />

„veredeltes“ Wasser, um den Chlorgeruch zu eliminieren.<br />

Dann, im August, kamen meine Eltern zu Besuch, natürlich per ZG 544, d. h. mit dem Auto. Ich war ganz<br />

„stigelisinnig“ vor Freude, als ich sie nach so vielen Monaten wiedersah. Ich habe die paar Tage mit Dädy und Muetti<br />

in Paris, auf dem Eiffelturm, in der Kulisse der Sacré Coeur und in Versailles, unendlich genossen. Im Anschluss<br />

fuhren meine Eltern dann weiter nach Niort im Südwesten von Frankreich zu Muettis Bruder Charles.<br />

Eine weitere Erinnerung ist der Staatsbesuch des russischen Präsidenten Nikita Chruschtschow bei General<br />

Charles de Gaulle. Zusammen mit vielen anderen Schaulustigen standen wir an der Route nationale, wo die beiden<br />

Präsidenten in den offenen Staatskarossen von Versailles nach Rambouillet fahren würden. Und da waren sie,<br />

aufrecht im Wagen: zuerst Nikita Chruschtschow und dann Charles de Gaulle. Und als unabhängige Schweizerin<br />

schwenkte ich mein „Tricolörchen“ auch für den Erzkommunisten, was vielleicht nicht ganz im Sinn der Nonnen war.<br />

Später, im August 2002, suchte ich die Gegend nochmals auf,<br />

den Ort, wo ich im Internat auf mein zukünftiges Leben hätte vorbreitet werden sollen!<br />

72 I Lebenswerk Wer ? der <strong>Charly</strong>

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