Berliner Zeitung 17.11.2018
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12 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018<br />
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4Millionen<br />
Moloch<br />
Berlin<br />
Manche suchen in der großen Stadt die Freiheit.<br />
Und finden sie. Anderen geht es<br />
viel zu schnell mit dem Wachsen.<br />
WievielUrbanität ist gut für uns Menschen?<br />
VonHarald Jähner<br />
IMAGO<br />
Nach Dekaden des<br />
Schrumpfens macht<br />
Berlin wieder das,was es<br />
zuvor eigentlich immer<br />
gemacht hat: Es wächst. Eigentlich<br />
müsste die Stadt das Wachsen gewohnt<br />
sein; über Jahrhunderte war<br />
sie zum Wachstum geradezu verurteilt.<br />
Dass die Stadtverwalter die vielen<br />
aktuellen Miseren und Pannen<br />
mit dem angeblich unerwartbaren<br />
Zuwachs erklären, ist, aus historischer<br />
Distanz betrachtet, ein ganz<br />
schlechter Witz.<br />
In den neunzig Jahren von 1820<br />
bis 1910 zum Beispiel verzehnfachte<br />
sich die <strong>Berliner</strong> Bevölkerung von<br />
rund 200 000 auf etwa zwei Millionen<br />
Menschen. Deshalb gleich voneiner<br />
„Explosion“ zu sprechen, wie es sich<br />
die Geschichtsschreibung der Stadt<br />
seit langem angewöhnt hat, ist allerdings<br />
auch stark übertrieben. Wenn<br />
das schon eine Explosion sein soll,<br />
was müssten da erst die Bewohner<br />
vonShenzhen sagen?<br />
Wachstum ist eine relativeGröße<br />
Shenzhen, die Stadt am chinesischen<br />
Perlflussdelta, hatte 1979 gerade<br />
mal 30 000 Einwohner. Heute,<br />
knapp 40 Jahre später, leben dort<br />
zwölf Millionen. Dieinhiesigen Verhältnissen<br />
unvorstellbare Aufgabe,<br />
mit solchem Wachstum fertig zu<br />
werden, hat die Bewohner von<br />
Shenzhen überaus findig gemacht.<br />
Von ihrem Innovationsgeist profitiertdie<br />
ganzeWelt; dortwirdfieberhaft<br />
an derVerbesserung unserer Apparate<br />
gearbeitet, zur Zeit am knickbaren<br />
Handydisplay.<br />
Die Sonderwirtschaftszone ist<br />
Chinas Silicon Valley und Shenzhen<br />
die reichste Stadt des Landes.Allein in<br />
der sogenannten iPod-City in Shenzhen<br />
arbeiten für den Konzern Foxconn<br />
inzwischen 300 000 Einwohner,<br />
die meisten Frauen. Schäbige,gerade<br />
mal zwanzig Jahre alte Hochhäuser<br />
werden schon wieder abgerissen, um<br />
schickeren Platz zu machen, umsäumt<br />
voneleganten Parks, durch die<br />
lautlos Elektrobusse kurven.<br />
Berlin ist dagegen eine im Schneckentempo<br />
wachsende Stadt, die so<br />
gemächlich reifen könnte wie der<br />
Whisky in den Fässern von Tennessee.Aber<br />
das Wachstum ist eine relative<br />
Größe. Was der einen Gesellschaft<br />
als Schildkrötentempo erscheint,<br />
gilt der anderen schon als<br />
atemberaubend. Städtisches Wachstum<br />
verläuft niemals ohne gelegentliche<br />
Überbeanspruchung der urba-<br />
nen und sozialen Gelenke.Eine Stadt<br />
ganz ohne Stau wäreein orwellscher<br />
Albtraum; der tägliche Minikollaps<br />
gehört zur gesunden Stadt, weil er<br />
ihre Bewohner daran erinnert, dass<br />
Dynamik Grenzen hat.<br />
Wachstum erzeugt Euphorien<br />
und Phobien, beider Höhepunkte<br />
erlebte in inflationärem Wachstum<br />
das Berlin der Weimarer Republik.<br />
Schon in den Jahrzehnten zuvor,seit<br />
der Gründerzeit, hatten sich die<br />
Mietskasernen unaufhörlich ins<br />
Umland gefressen, nun beschleu-<br />
Menschen lebten im Jahr 1820 in Berlin. 1910 waren es zehn Mal so viele.<br />
nigte die Stadt auch ihr inneres<br />
Tempo. Inder Selbstwahrnehmung<br />
und -inszenierung der Stadt sollte alles<br />
wirbeln und rasen und war doch<br />
immer noch nicht schnell genug.<br />
Baudirektor Martin Wagner sah<br />
die Stadt als „Maschine für Arbeit<br />
und Wohlleben“, bestimmt vomVerkehr,von<br />
den Prioritäten „Beschleunigung,<br />
Stockungslosigkeit, Übersichtlichkeit“.<br />
Ihre Glieder sollten<br />
laufen wie geschmiert und ihre<br />
Adernden schnellsten Durchlass gewähren.<br />
Stattdessen stockte es überall,<br />
weshalb in einem fortabgerissen<br />
und kahl saniert wurde wie gehetzt.<br />
Noch abends beim Tanzen kultivierten<br />
die <strong>Berliner</strong> einen wirbelnden<br />
Charleston-Stil, der das Tempo des<br />
Tages feierte und die Nacht auf Trab<br />
bringen sollte.<br />
Dieser „Duft von Freiheit und<br />
Benzin“, wie die Schriftstellerin Gabriele<br />
Tergit das nannte, zog lebenshungrige<br />
Menschen aus allen Provinzen<br />
an, hier ihr Glück zu versuchen.<br />
Brave Mädchen kamen aus<br />
den Kleinstädten und Dörfern und<br />
suchten einen Platz in den neuen<br />
Berufszweigen der Stadt –inden Telegrafenämtern,<br />
<strong>Zeitung</strong>en, Büros<br />
und Warenhäusern. Nach Monaten<br />
kehrten sie verwandelt auf Besuch in<br />
die Provinz zurück: Selbstbewusst,<br />
schick, schlagfertig und vorlaut verstörten<br />
sie ihreFamilien und besänftische<br />
mausert, hast Du Fleißige<br />
schöne Beine und die nötige Mischung<br />
von Zuverlässigkeit und<br />
Leichtsinn, vonVerschwommenheit<br />
und Umriss,von Güte und Kühle gewonnen.“<br />
Nur ein bisschen sentimentaler<br />
wünschte er sie sich, vorallem<br />
in Liebesdingen.<br />
DieStadt veränderte das Bewusstsein<br />
bis tief hinein ins Innere des<br />
Wahrnehmungsapparates, löste die<br />
Menschen aus ihren traditionellen<br />
Verhaltensmustern und führte sie<br />
frisch zurechtgemacht auf das Parkett<br />
der Cabarets und die Flure der Arbeitsämter.Nicht<br />
wenige aber spie sie<br />
verarmtund verbittertwieder aus.<br />
VomMoloch Berlin sprach man,<br />
von der menschenverschlingenden<br />
Hure Babylon, von der gefräßigen<br />
Stadtmaschine, vom Großstadtdschungel<br />
und seinem Pesthauch.<br />
Diepanischen Metaphernhatten ihrenGrund<br />
nur zur Hälfte in der Realität;<br />
die darüber hinausschießende<br />
Fantasie rührte aus dem Umstand,<br />
dass niemand wissen konnte,wohin<br />
dasWachstum der Stadt noch führen<br />
würde. Wie viele Menschen würde<br />
Berlin noch verschleißen? Wie viel<br />
Dreck, Abgase, Keime und Fäulnis<br />
würden den überfüllten Quartieren<br />
noch zusetzen? Wie viel Hetze den<br />
Herzklappen? Wie viel Arbeitslose<br />
den öffentlichen Kassen? Das Berlin<br />
derZwanzigerjahrelöste trotz seines<br />
Glanzes, andem die meisten ohnehin<br />
nicht teilhaben konnten, wuchernde<br />
Zukunftsängste aus, von<br />
denen vor allem die Nazis profitierten.<br />
Die Stadtfeindschaft, der Hass<br />
auf die„Asphaltkultur“ und die sexuelle<br />
Libertinage gehörten zum Standardrepertoireihrer<br />
Agitation.<br />
Heute wissen wir, dass das<br />
Wachstum der Stadt limitiert war;<br />
die Jahre nach dem Krieg waren<br />
durch Fortzüge,die folgenden durch<br />
Stillstand gekennzeichnet im Wechsel<br />
mit immer weiteren Abgängen. Es<br />
tigten die besorgten Väter damit,<br />
dass sie die leere Familienkasse<br />
großspurig mit zehn Reichsmark<br />
füllten. Heinrich Mann sprach von<br />
Berlin als einer Menschenwerkstatt.<br />
Die innere Urbanisierung schuf<br />
neue Sozialcharaktere, deutlich<br />
sichtbarer bei den Frauen als bei den<br />
Männern. Der Schriftsteller Franz<br />
Hessel schrieb in der deutschen<br />
Vogue 1929 eine Liebeserklärung<br />
„An die <strong>Berliner</strong>in“: „Mit der Geschwindigkeit,<br />
in der Deine Stadt aus<br />
klobiger Kleinstadt sich insWeltstädternet.<br />
In prekärer Dichte vergesellschaftet<br />
fühlte man sich nicht länger<br />
durch die Stadt, sondern durch das<br />
digitale Netz.<br />
Dessen Unsichtbarkeit steigerte<br />
die mit der Erfassung und Verstrickung<br />
unserer sozialen Existenz zuvor<br />
schon verbundenen Ängste ins<br />
Paranoide. Nicht das „Räderwerk“<br />
der Stadt oder ihrePhantasmagorien<br />
als Dschungel und Moloch lösen<br />
heute das bedrohliche Gefühl gesellschaftlicher<br />
Allmacht aus, sondern<br />
die banale Allwissenheit der Clouds<br />
ist nur ein paar Jahreher,dariss man<br />
in Berlin sogar die Obergeschosse<br />
der Plattenbauten ab, umLeerstand<br />
zu vermeiden –ein heute grotesk anmutender<br />
Planungsirrtum, allerdings<br />
ein entschuldbarer. Denn<br />
nicht nur in Berlin, auch in vielen anderen<br />
Ländern Europas liefen den<br />
Städten die Einwohner davon.<br />
In den Achtzigerjahren schien sie<br />
der technische Fortschritt entbehrlich<br />
zu machen. Die Städte wurden<br />
gewissermaßen arbeitslos, denn die<br />
Digitalisierung stellte die Stadt als<br />
Produktionsstandort der Zukunft<br />
gründlich in Frage. Damit änderte<br />
sich unser Blick auf die Großstadt<br />
fundamental. Moderne Fabriken<br />
wurden auf der grünen Wiese errichtet,<br />
Einkaufscenter vor die Tore der<br />
Stadt verlegt, Bürohochhäuser in<br />
Vorstädten errichtet. Das Internet<br />
machte logistische Zusammenarbeit<br />
von räumlicher Nähe unabhängig;<br />
heute ist man auf der Hallig Hooge ja<br />
potenziell nicht weniger vernetzt als<br />
in Berlin-Mitte.<br />
In der Folge begannen viele<br />
Städte zu veröden. Plötzlich kämpften<br />
sie nicht mit zu viel Urbanität,<br />
sondern mit zu wenig. Die Städte<br />
wurden nicht mehr mit Enge assoziiert,<br />
sondern mit Weite, vor allem<br />
Berlin, die Stadt der Brachen. Zur<br />
gleichen Zeit wanderten die sozialen<br />
Ängste aus der Stadt hinaus –ins Inund<br />
Server,die uns über unsereHandys<br />
beständig absaugen und triggern.<br />
Seitdem erscheint uns die<br />
Stadt nicht mehr als das Medium der<br />
Vergesellschaftung, sondern als ihr<br />
nostalgisches Abbild, als eine ArtRealmetapher,<br />
ein Idyll. Was früher<br />
Ängste auslöste, wirkt nun geradezu<br />
beruhigend auf die Sinne.Man steht<br />
am Strand des Menschenmeeres<br />
und fischt schöne Eindrücke heraus.<br />
Miteinem Malwirkt die Dichte einer<br />
Stadt beruhigend, weil sie der abstrakten<br />
digitalen Vernetzung ein<br />
sinnliches Gegenbild gibt.<br />
Seit den frühen Neunzigerjahren<br />
suchen die Menschen deshalb verstärkt<br />
wieder Nähe.Drangvolle städtische<br />
Szenen wie an derWarschauer<br />
Brücke oder dem Schlesischen Tor<br />
werden genossen, nicht gemieden.<br />
Die breiten Schneisen zwischen den<br />
Häusern, die man in den Sechzigerjahren<br />
ließ, um die Menschen durchatmen<br />
zu lassen und ihnen Luft,<br />
Licht und Sonne zu geben, wirken<br />
jetzt öde und bedrückend; umgekehrt<br />
erscheint die Enge, die man<br />
früher als bedrohlich und ungesund<br />
empfand, nun anheimelnd, angenehm<br />
und entspannend. Schon aus<br />
ästhetischen Gründen setzen die<br />
Städte seitdem auf Verdichtung aller<br />
Art. Stadtmarathons, Weihnachtsmärkte,<br />
Flohmärkte, Fanmeilen, Public<br />
Viewing –Zusammenballungen<br />
aller Art wurden inszeniert, um die<br />
urbane Dichte im Stadtevent noch<br />
zu intensivieren.<br />
Heute wächst Berlin wieder, und<br />
alte Freuden und Ängste kehren in<br />
neuem Gewand zurück. Die Digitalisierung<br />
hat inzwischen viele Schrecken<br />
verloren, aber wohl auch ihre<br />
größten Triumphe hinter sich. Nach<br />
der euphorischen Flucht auf die grünenWiesen<br />
kehrtdieWirtschaft in die<br />
Städte zurück, zuletzt der Planung<br />
nach ausgerechnet der Hightech-<br />
Riese Siemens, ein Sieg der analogen<br />
Welt. Die sinnliche Nähe anonymer<br />
Menschen und die Fülle von Kunst<br />
und Kultur haben sich für das Wachhalten<br />
von Kreativität als unabdingbar<br />
erwiesen. Wirbrauchen einander<br />
live, mitHaut und Haar.Deshalb strömen<br />
die Leute wieder in die Stadt, pro<br />
Jahr wächst Berlin um die Größe einer<br />
Kleinstadt. Unablässig verwandelt<br />
sich hier Fremdes in Bekanntes und<br />
umgekehrt.<br />
Die Schule der Integration<br />
Die Stadt ist eine bewährte Schule<br />
der Integration, ihreBewohner sind<br />
deshalb weniger ängstlich. Und<br />
doch braucht man hier neuen Mut,<br />
so viel hat der Terror inzwischen erreicht.<br />
Zur früheren Unbeschwertheit<br />
muss man sich bei Massenveranstaltungen<br />
geradezu ermannen,<br />
um nicht das schale Gefühl zu empfinden,<br />
die Freiheit längst verloren<br />
zu haben. Städtische Dichte gerät<br />
allmählich wieder in Misskredit.<br />
Der ökonomisch irrsinnige Widerstand<br />
gegen die Bebauung des Tempelhofer<br />
Feldesist eindeutliches Signal.<br />
Die größte Gefahr für die Stadt<br />
aber droht im Schutz falscher Gesetze.<br />
Habgier und Egoismus drosseln<br />
die Freude am neuen Wachstum,<br />
die Spekulation mit dem<br />
Wohnraum lässt ihre Bewohner verzweifeln<br />
und sortiert die Stadt nach<br />
Einkommensklassen um. Wird die<br />
Segregation nicht gebremst, verödet<br />
Berlin aufs Neue.Mit derheute so innig<br />
verehrten Mietskaserne erfand<br />
die vom Wachstum der Gründerzeit<br />
geforderte Stadt geniale Strategien<br />
und Gehäuse des Wachstums, die<br />
sich bis heute bewähren. Vonsoviel<br />
Klugheit sind wirweitentfernt.<br />
Harald Jähner sieht Berlin abwechselnd<br />
voninnen und außen.<br />
Er wohnt am Stadtrand.