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Berliner Zeitung 17.11.2018

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018 17<br />

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4Millionen<br />

Eine kurze Geschichte vom<br />

Ankommen und Weiterziehen:<br />

Die Zelte standen eines<br />

Tages einfach da. Zunächst<br />

bemerkten nur die Fahrgäste<br />

in den Zügen auf der Stadtbahn, dass<br />

kurz vor dem Westkreuz eine kleine<br />

Siedlung auf einer Brache entstanden<br />

war.Etwas später kamen die ersten<br />

Reporter. Sie trafen Menschen<br />

aus Osteuropa, auch einzelne Deutsche.<br />

Viel erzählen mochten die<br />

nicht. Zwei Jahre bestand das kleine<br />

Lager,dann ließ der Grundstücksbesitzer<br />

es räumen. DieSpur seiner Bewohner<br />

verlor sich. Es ist wahrscheinlich,<br />

dass etliche von ihnen<br />

noch in Berlin sind. Es ist dagegen<br />

unwahrscheinlich, dass die meisten<br />

von ihnen in irgendeiner Bevölkerungsstatistik<br />

auftauchen.<br />

Eine andere Geschichte vom Ankommen<br />

und Bleiben. Das„Refugio“<br />

in der Neuköllner Lenaustraße ist für<br />

die <strong>Berliner</strong> Stadtmission ein Vorzeigeprojekt:<br />

Geflüchtete und Nicht-<br />

Geflüchtete leben Tür an Tür in dem<br />

früheren Altenheim, betreiben zusammen<br />

ein Café, helfen einander.<br />

Die Vorzeigebewohnerin in dem<br />

Haus ist Malakeh Jazmati. In Syrien<br />

war sie Fernsehköchin. Nach ihrer<br />

Ankunft in Deutschland vornur drei<br />

Jahren baute sie ein Cateringunternehmen<br />

auf. Jazmati hat das Kanzleramt<br />

beliefert und die Berlinale.<br />

Ein Kochbuch hat sie auch verfasst.<br />

Es sei ihr Beitrag zur Rettung ihres<br />

Heimatlands, schreibt sie: Sie wolle<br />

Syriens Küche bewahren.<br />

Ausallen EU-Staaten, allen voran<br />

aus Rumänien (2 486), Bulgarien<br />

(2 273) und Polen (2 286), gab es dagegen<br />

mehr Zu- als Fortzug. Weit<br />

mehr als die Hälfte der Immigranten<br />

stammen aus europäischen Ländern.<br />

Undder Rest?<br />

Der kommt von überall, und nur<br />

zu einem kleinen Teil aus den Ländern,<br />

die als Fluchtregionen gelten.<br />

So kamen mehr Neu-<strong>Berliner</strong> aus<br />

China (2 330) und Brasilien (1 608)<br />

als aus Syrien (2 165) und dem Irak<br />

(632). Unddas wichtigste Herkunftsland<br />

außerhalb der EU ist nicht etwa<br />

die Türkei (3 566), sondern essind<br />

die USA (5 300).<br />

Die Zuwanderung nach Berlin ist<br />

also viel heterogener, als die Flüchtlingsdebatte<br />

erahnen lässt. Unbestreitbar<br />

gibt es aber eine große Zahl<br />

von Einwanderern, die nicht nur<br />

eine andere Kultur mitbringen, sondern<br />

auch aus Regionen mit einem<br />

völlig anderen Wohlstandsniveau<br />

stammen.<br />

Ein<br />

ständiges<br />

Kommen<br />

Berlin wächst durch Zuwanderung. Es bilden sich<br />

„Ankunftsorte“, wo Menschen versuchen, ihren<br />

Platz in der Gesellschaft zu finden.<br />

Aber ist die Stadt bereit für die Neuen?<br />

VonFrederik Bombosch<br />

Was also können die Städte tun,<br />

um dieser Gruppe den Weg indie<br />

Gesellschaft zu ebnen? DerMigrationsexperte<br />

Saunders nennt Voraussetzungen,<br />

die nur wenige deutsche<br />

Städte bieten können. Eine ist günstiger<br />

Wohnraum. In Berlin gibt es<br />

ihn nur noch am Stadtrand –und<br />

selbst dort finden sich mitunter<br />

Zweizimmerwohnungen, die sich<br />

acht oder mehr Bewohner teilen.<br />

Am Stadtrand fehlt jedoch, was<br />

gerade jene Zuwanderer brauchen,<br />

die keinen Hochschulabschluss oder<br />

anderes Expertenwissen mitbringen:<br />

Ladenflächen, wo sie ein Geschäft<br />

oder ein Restaurant eröffnen<br />

könnten, um sich selbst und andere<br />

zu versorgen.<br />

Ist Berlin also dabei, ungeeignet<br />

zu werden als Ankunftsort? Nicht,<br />

wenn man Saunders folgt. Denn andere<br />

Prozesse erleichtern den Neuankömmlingen<br />

das Leben: Die Pioniereaus<br />

den unterschiedlichen Teilen<br />

der Welt sind längst in der Stadt,<br />

können denen, die nachfolgen, ihre<br />

geschriebenen und ungeschriebenen<br />

Regeln erklären.<br />

Wie sie an der Gesellschaft mitwirken,<br />

das aber wird sich in den<br />

nächsten Jahren entscheiden. Aufzuholen<br />

hat Berlin eine Menge,trotz<br />

jahrhundertelanger Zuwanderung.<br />

Im Abgeordnetenhaus etwa scheint<br />

die Zeit stehen geblieben zu sein. Politiker<br />

mit Migrationshintergrund<br />

sind dortdie Ausnahme,weniger als<br />

jeder zehnte stammt selbst aus einem<br />

anderen Land oder hat ausländische<br />

Eltern.<br />

In der ganzen Stadt war es Ende<br />

2017 ein Drittel, 1244 297 Menschen.<br />

Ihre Zahl und ihr Anteil an der<br />

Bevölkerung steigen ständig. IhrEinfluss<br />

bislang nicht.<br />

Frederik Bombosch<br />

stammt selbst aus einer<br />

Familie vonFlüchtlingen.<br />

Mehr Chinesen als Syrer<br />

Irgendwo zwischen diesen beiden<br />

Polen bewegen sich die meisten<br />

Neuankömmlinge in Berlin – zwischen<br />

Prekariat und Bilder- beziehungsweise<br />

Kochbuchintegration in<br />

kürzester Zeit. Die Herausforderung<br />

für Städte wie Berlin, schreibt der<br />

Journalist und Migrationsexperte<br />

Doug Saunders in seinem Buch „Arrival<br />

City“, sei es, ihre Rolle in den<br />

globalen Netzwerken der Migration<br />

zu verstehen und anzunehmen. Die<br />

deutsche Hauptstadt durchläuft<br />

nach seiner Überzeugung eine ähnliche<br />

Entwicklung wie Istanbul, Delhi<br />

oder Peking: Sie werden zu<br />

„Ankunftsstädten“, wo Migranten<br />

Menschen zogen<br />

2017 aus den USA nach<br />

Deutschland –mehr<br />

als aus jedem anderen Land<br />

außerhalb Europas.<br />

versuchen, ihren Platz zu finden –<br />

und die es in der Hand haben, diese<br />

Suche zu erleichtern oder zu erschweren.<br />

Berlin im übernächsten Jahrzehnt,<br />

das wirdeine Stadt, in der sich<br />

noch viel mehr Menschen als heute<br />

in verschiedenen Phasen des Ankommens<br />

befinden. Man kann es<br />

nicht oft genug betonen: DasWachstum<br />

der Bevölkerung speist sich fast<br />

ausschließlich aus Migration. Zwar<br />

gibt es seit 2007 einen kleinen Geburtenüberschuss.<br />

Aber auch er ist<br />

auf die Zuwanderung aus dem Inund<br />

Ausland zurückzuführen: weil<br />

vorallem junge Menschen im gebärfähigen<br />

Alter in die Stadt kommen.<br />

Um 39 357 Personen wuchs die<br />

<strong>Berliner</strong> Bevölkerung im vorigen<br />

Jahr. Zu 85 Prozent geht dieses<br />

Wachstum auf den Zuzug zurück.<br />

Berlin gewinnt aus fast allen Regionen<br />

der Welt Einwohner. Nur<br />

an Brandenburg verliert es nennenswert.<br />

Wer ganz aufmerksam<br />

ist, entdeckt in der internationalen<br />

Wanderungsstatistik auch,<br />

dass Berlin in der Bilanz des Jahres<br />

2017 fünfzehn Einwohner an die<br />

Schweiz verloren hat.

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