Berliner Zeitung 17.11.2018
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26 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018<br />
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4Millionen<br />
Wo die Supermärkte 24/7 geöffnet haben: Bache bei der Nahrungssuche in Tegel. DPA Vielleicht der erfolgreichste Einwanderer:Waschbär im Plänterwald. DPA Immer gut gekleidet: Stadtfuchs im Regen am Mehringdamm. DPA<br />
Berlin ist die grünste Metropole<br />
Europas. Fast 900<br />
Quadratkilometer groß<br />
und über 40 Prozent sind<br />
Grünflächen, Brachflächen, Ackerflächen,<br />
Waldflächen, Wasserflächen,<br />
Sumpfflächen ...“ Derk Ehlert,<br />
Mitarbeiter der Senatsverwaltung<br />
für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz<br />
und seit 20 Jahren Berlins<br />
Wildtierreferent, lässt seinen Blick<br />
versonnen über die riesige Berlinkarte<br />
an der Bürowand schweifen.<br />
Es fasziniert ihn immer noch:<br />
Dass die Stadt sternförmig gewachsen<br />
ist und die Bahngleise, Kanäle<br />
und Autobahnen Frischluftachsen<br />
freilassen, die nicht nur den Menschen<br />
Erholung und –inden Kleingärten<br />
– Nahrung bieten, sondern<br />
auch Lebensraum für rund 20 000<br />
Tier- und Pflanzenarten sind. „Natürlich<br />
kann ich nicht pauschal sagen,<br />
dass es allen Tieren und Pflanzeninder<br />
Stadt gut geht. Aber im Gegensatz<br />
zum Land, wo die industrialisierte<br />
Landwirtschaft unter Einsatz<br />
von Herbiziden auf Monokulturen<br />
setzt, bietet Berlin den Arten viele<br />
verschiedene Biotope.“<br />
Wo die Feldlerche brütet<br />
Die Feldlerche etwa, bedroht und daher<br />
zumVogel des Jahres 2019 erkoren,<br />
brütet erfolgreich auf dem Tempelhofer<br />
Feld, wo die Halme weit genug für<br />
ihreNester auseinanderstehen und sie<br />
reichlich Insekten findet, weil nicht gedüngt<br />
wird. Aber auch jeder private<br />
Garten, Dachgarten oder auch nur bepflanzte<br />
Balkon trägt sein Scherflein<br />
zur urbanen Bio-Diversität bei.<br />
Kann man also sagen: 3,7 oder<br />
auch irgendwann vier Millionen<br />
Bürger und Bürgerinnen, die sich<br />
um ihreStadt kümmern, sind für die<br />
Tiere und Pflanzen besser als dünn<br />
besiedelte Agrarlandschaften?<br />
„Nicht generell“, schränkt Ehlert, der<br />
studierte Landschaftsplaner, ein.<br />
„Für die Feldlerche und das Tempelhofer<br />
Feld stimmt es.Für den Mauersegler<br />
stimmt es nicht. Ursprünglich<br />
ein Vogel, der im Wald brütete, bevorzugt<br />
er nunmehr seit 100 Jahren<br />
den Stadtraum, um seine Jungvögel<br />
großzuziehen. Seine lauten Sri-sri-<br />
Rufe,wenn er zu zwanzigst durch die<br />
Häuserschluchten zieht, sind für<br />
mich der Inbegriff von Sommer in<br />
der Stadt! Aber seit wir baulich nachverdichten,<br />
finden diese Vögel keinen<br />
Platz mehr, schon gar nicht in<br />
der heutigen Glas-und-Stahlarchitektur.“<br />
Dennoch sei Bautätigkeit nicht<br />
prinzipiell ein Todesurteil für Tiere.<br />
Nischen entstünden überall. Und<br />
Berlin sei keine Arche Noah. „Die anpassungsfähigen<br />
Tiere kommen in<br />
die Stadt. Dieanderen bleiben draußen<br />
und sterben gegebenenfalls<br />
aus.“ Zu den anpassungsfähigen gehören<br />
in jedem Fall die Füchse, die<br />
Berlin seit langem besiedeln und<br />
hier deutlich kleinere Reviere brauchen<br />
als im Wald, weil die nächste<br />
Mülltonne immer direkt um die Ecke<br />
steht. Ihre Rückzugsorte finden sie in<br />
den hundefreien Zonen der Stadt: in<br />
Kitas, auf Friedhöfen oder Mittelstreifen.<br />
Wildnis ist, wo es Nahrung<br />
gibt und kein Feind dich findet. Und<br />
der Mensch hat sich an den Anblick<br />
gewöhnt, selbst auf dem Alexanderplatz<br />
sorgt ein Fuchs nicht mehr für<br />
Aufsehen. Dass die Wildschweine<br />
gerade in trockenen Jahren in die gut<br />
gewässerten Gärten kommen, ist ärgerlich,<br />
aber kein echtes Problem.<br />
Ein Remigrant, der mit dem Fall<br />
des Eisernen Vorhangs in Deutschland<br />
wieder heimisch wurde –fast<br />
etwas zu heimisch, wie manche finden<br />
–, ist der Wolf. Könnte er nach<br />
Berlin kommen und sich auch etwa<br />
in den Müggelbergen wohlfühlen?<br />
Ehlertschüttelt den Kopf. „Zwar haben<br />
wir rund um Berlin mehrereRudel,<br />
und immer wieder werden innerhalb<br />
des <strong>Berliner</strong> Rings überfahrene<br />
Tieregefunden. Aber Wölfe haben<br />
einen riesigen Lebensraum von<br />
vielleicht hundert Quadratkilometern.<br />
Denen ist die Stadt zu klein.“<br />
UndElche,von denen sich immer<br />
häufiger einer aus Polen Richtung<br />
Westen begibt, hätten im Stadtgebiet<br />
Berlin ist<br />
(k)eine<br />
Arche<br />
Für manche Tiere ist die große Stadt ein Segen,<br />
andere überleben die Verdichtung nicht. Ein<br />
Besuch beim Wildtierreferenten des Senats<br />
VonPetraKohse<br />
Prozent von Berlin sind Ackerflächen,<br />
Waldflächen, Wasserflächen,<br />
Sumpfflächen.<br />
überhaupt nur im Gehege eine<br />
Überlebenschance. Zugroß und zu<br />
langsam, seien sie dem Verkehr hoffnungslos<br />
ausgeliefert, und sowieso<br />
könnten sie dem Menschen anders<br />
als der scheue Wolf auch wirklich gefährlich<br />
werden, da sie bei Begegnungen<br />
nicht fliehen, sondern<br />
durchaus angreifen können. Trotzdem<br />
käme niemand auf die Idee,den<br />
Elch deswegen auszurotten. „Es ist<br />
typisch Mensch, dass wir diesen großen<br />
Ohren, diesem langen Gesicht<br />
mit den langen Lippen nicht böse<br />
sein können. DenWolf aber verdammen<br />
wir,ohne ihn zu kennen.“ Überflüssig<br />
zu erwähnen, dass Derk Ehlert<br />
auch Wolfsbeauftragter des<br />
Landes Berlins ist.<br />
Zu den Zuwanderern der letzten<br />
Jahrzehnte gehört auch der aus russischen<br />
Pelzfarmen entsprungene<br />
Marderhund, der in Brandenburg<br />
„allgegenwärtig“ ist, aber Berlin bisher<br />
noch respektvoll umschleicht,<br />
während der Mink, ebenfalls ein<br />
ehemaliger Pelzfarminsasse, bereits<br />
an den Wasserkanten der Randbezirke<br />
auf Beutezug geht. Längst im<br />
Zentrum heimisch, aber als nachtaktives<br />
Wesen, das auf Bäumen und<br />
Dächern unterwegs ist, nicht so<br />
sichtbar wie der Fuchs, ist der<br />
Waschbär, der 1945 bei Strausberg<br />
aus einer Farm freigesetzt wurde.<br />
Dasreinste Integrationswunder<br />
Dieser Nordamerikaner ist das<br />
reinste Integrationswunder: Als natürliche<br />
Feinde hat er hier nur Kälte<br />
und bestimmte Viren, Bejagung<br />
gleicht er durch Geburtensteigerung<br />
aus, Nahrungsmangel durch mehr<br />
männliche Nachkommen, die wanderfreudiger<br />
sind als ihre Schwestern–dem<br />
Waschbären ist nicht beizukommen,<br />
und Ehlert kennt keine<br />
Stelle in Berlin, an der er noch keinen<br />
gesehen hätte. Manchmal wird er<br />
durch Krähen verraten, deren Revierfeind<br />
er ist. Die hätten schon einen<br />
richtigen„Waschbärruf“.<br />
Über die Wiederkehr der in der<br />
Nachkriegszeit ausgerotteten Biberin-<br />
dessen freut sich die Stadtverwaltung<br />
sehr.„1990 ist der erste Biber im Oberhavelbereich<br />
aufgetaucht, das war<br />
eine Riesensensation. Heute haben<br />
wir vermutlich über 100 Biber in der<br />
Stadt. Auffallen tun sie aber nur,wenn<br />
sie,wie aktuell im Tiergarten, mal das<br />
Wasser stauen, weil der Wasserstand<br />
der Spreeetwas gesunken ist. Als eine<br />
der wenigen Arten richten sie sich ja<br />
ihren Lebensraum selbst ein, indem<br />
sie Hölzer vomUfer schneiden und ins<br />
Wasser werfen.“ Wobei beim „Schneiden“<br />
die eisenreichen, orangen Zähne<br />
zum Einsatz kommen.<br />
Die stärkste Zuwanderung findet<br />
in einem Bereich statt, für den ältere<br />
Tierfreunde die Lesebrille aufsetzen<br />
müssen. Durch die enorme Geschwindigkeit,<br />
in der Menschen und<br />
Frachten den Globus überqueren,<br />
werden etliche Arten unfreiwillig importiert:<br />
Der Buchsbaumzünsler<br />
etwa, eine asiatische Motte, „die<br />
2016 in Berlin auftauchte, 2017 weit<br />
verbreitet war und heute alle Bestände<br />
in Berlin erfasst hat“, wie Ehlert<br />
sagt. „Die frisst die Buchsbäume<br />
auf, und es gibt kein Mittel dagegen.“<br />
Aber letztlich sei es immer so gewesen,<br />
dass Arten kämen und Arten<br />
gingen. „Um 1500 gab es durch die<br />
Reisen in die Neue Welt eine ähnliche<br />
Phase wie jetzt, in der ständig etwas<br />
eingeschleppt wurde.“ Der Höckerschwan<br />
etwa, der von unseren<br />
Seen nicht wegzudenken ist, kommt<br />
aus Asien. Unddie wunderliche Tatsache,<br />
dass er im Winter zuweilen<br />
mitten auf dem Eissteht und festfrieren<br />
könnte, rühre daher, dass er gedanklich<br />
noch dortsei, wo es keinen<br />
Frost gibt. Den heimischen Singschwänen<br />
passiere das nicht, die<br />
brächen permanent die Eiskanten<br />
ab,damit die Wasserflächenfreibleiben.<br />
„Inder Natur“, sagt Derk Ehlert,<br />
„sind 500 Jahreeine kurze Zeit.“<br />
PetraKohse<br />
lauertjetzt immer auf den<br />
„Waschbärruf“ derKrähen.<br />
Berlin 2030<br />
Berrrlin is ja so jroß, so jroß, so jroß!/ Denkt<br />
man, man kennt Berlin,/ denn ist’t schon<br />
wieder jrößer, als wie et früher schien“, sang<br />
einst der Komiker Otto Reutter.Das war 1913,<br />
und „so jroß“ war Berlin damals noch gar<br />
nicht. Das alte Stadtgebiet reichte vomWedding<br />
bis zum Halleschen Torund von Friedrichshain<br />
bis zum Tiergarten. Doch nur sieben<br />
Jahre, nachdem Reutter sein Couplet gesungen<br />
hatte, wurde Berlin plötzlich zur flächenmäßig<br />
zweitgrößten Stadt der Welt –<br />
hinter Los Angeles.Zuvor hatte es sieben umliegende<br />
Städte und Dutzende Dörfer und Gemeinden<br />
geschluckt. Es rülpste kurz und<br />
sagte: „Ick heiße Jroß-Berlin, mein Freundchen!<br />
Damit de’t weeßt.“<br />
Und –schwupps –war auch mein Opa,<br />
ein 16-jähriger Köpenicker Junge, zum echten<br />
<strong>Berliner</strong> geworden.<br />
Plötzliches Wachstum ist den <strong>Berliner</strong>n<br />
also überhaupt nichts Neues. Zunehmende<br />
Enge auch nicht. Klaustrophobisch darfman<br />
in Berlin nicht sein. „Früher bin ick janz locker<br />
mitten am Taaredurch unsereStraße jejoggt“,<br />
erzählte mir ein Freund aus Kreuzberg.<br />
„Jetz komm ick nur in Tippelschritten<br />
vorwärts, sovoll is dit.“ In S- und U-Bahnen<br />
steht man auch noch mitten in der Nacht wie<br />
eingequetscht. Mancher <strong>Berliner</strong> will nur<br />
noch weg, ins Brandenburger Umland, wo<br />
man noch atmen kann. Aber was nützt das<br />
Jammern? Offenbar gelangen wir jetzt erst<br />
wieder zurück in eine <strong>Berliner</strong> Normalität,<br />
die durch Krieg, Nachkrieg und Teilung unterbrochen<br />
worden war.<br />
Alles hatte schon viel früher begonnen.<br />
WerimJahre1800 geboren wurde,purzelte in<br />
eine Stadt mit 172130 Einwohnern, heute<br />
etwa zu vergleichen mit Aachen und Bielefeld.<br />
Seinen 80. Geburtstag feierte er dann in einer<br />
Millionenstadt. Die Industrialisierung hatte<br />
in wenigen Jahrzehnten 950 000 Menschen<br />
nach Berlin gespült. Sie wohnten meist zusammengepfercht<br />
in Mietskasernen. Wieeng<br />
es in der Stadt war,kann man sich kaum noch<br />
vorstellen. Der <strong>Berliner</strong> Autor Josef Wiener-<br />
Volksvajnüjen in<br />
vollen Züjen<br />
VonTorsten Harmsen<br />
Braunsberg bedichtete vor hundert Jahren<br />
eine Fahrt in der überfüllten Hochbahn:<br />
„Hüte,die verbeult sind,/ Oogen, die verheult<br />
sind,/ undamKörper Fleckenblau und jrien:/<br />
Dieset Volksvajnüjen,/ und in ,vollen Züjen‘,/<br />
Mensch, det jiebt et doch bloß in Berlin!<br />
Ich gebe eszu: Auch meine Familie hat<br />
dazu beigetragen, die Stadt mit noch mehr<br />
Menschen zu füllen. Meine Oma kam in den<br />
20er-Jahren mit zwei Schwesternaus Thüringen<br />
hierher, umArbeit zu finden. Sie lernten<br />
Männerkennen, junge Arbeiter,und gründeten<br />
selbst Familien. Allein meine Oma und<br />
mein Opa hinterließen 30 direkte Nachkommen,<br />
vonden Kindernbis zu den Ururenkeln.<br />
Sie haben sich also verfünfzehnfacht. Meine<br />
Frau und ich haben uns bisher nur verdoppelt.<br />
Es ist also noch Luft nach oben.<br />
„DubistUr-<strong>Berliner</strong>? Wow, was ganz Seltenes!“<br />
–soreagiertmancher,wenn ich erzähle,<br />
dass ich hier geboren bin. Aber was heißt das<br />
schon? Fast jeder „echte <strong>Berliner</strong>“hat Vorfahrenvon<br />
außerhalb.„Von denVölkernderWelt,<br />
die nicht nur auf Berlin geschaut haben, sondern<br />
inden letzten 60 Jahren auch hergezogen<br />
sind, sollen 1123 142 Menschen aus dem<br />
Ausland sein (Stand: 30. Juni 2016)“, schrieben<br />
JanEik und der leider jüngst verstorbene<br />
Horst Bosetzky in ihrem Berlin-Lexikon „Von<br />
Allex bis Zausel“ (JaronVerlag).<br />
Und der Zuzug begann ja schon viel früher.Wenn<br />
ich in den Spiegel blicke, sehe ich<br />
ein rundes Gesicht mit schmalen Augen.<br />
„Deine Vorfahren stammten aus den Weiten<br />
der mongolischen Steppe“, sagt meine Frau,<br />
und blickt mich mit ihren blauen Skagerrak-<br />
Augen an. Meine große Tochter hat wilde Locken<br />
und einen südfranzösischen Einschlag.<br />
Woher eigentlich? Einer meiner Onkel sah<br />
aus wie ein mexikanischer Mariachi-Sänger,<br />
den ich mal auf einem Plattencovergesehen<br />
habe.Wannwar dieser Mexikaner eigentlich<br />
hier? Wirwerdeneswohl nie erfahren.<br />
Buchtipp: Torsten Harmsen: Neulich in Berlin –Kurioses aus<br />
dem Hauptstadt-Kaff, Be.bra-Verlag,Berlin 2018, 14 Euro.