20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018 ························································································································································································································································································· 4Millionen Mit Abstand betrachtet entwickeln die Dinge oft eine erstaunliche Klarheit. Das <strong>Berliner</strong> Umland zum Beispiel: Fährt man mit dem Auto durch, hat man den Eindruck einer wüsten Abfolge von Straßen, Autobahnauffahrten, fußballfeldgroßen Supermarkt-Filialen und Neubausiedlungen, die aussehen, als hätte man das gleiche Einfamilienhaus endlose Male vervielfältigt. Auf einer Landkarte im Maßstab 1:300 000 sieht man aber ganz deutlich: Es gibt durchaus eine Ordnung, sie hat die Form eines Sterns. Von Berlin aus ziehen sich Arme in alle Himmelsrichtungen, sie werden dünner und enden dann. Das runde Zentrum des Sterns und die Arme stehen für bebaute Flächen, die eigentliche Überraschung liegt dazwischen: Da ist kaum etwas. Nur viel Grün, ab und an ein Dorf. Bebautes Gebiet, Grünfläche, bebautes Gebiet, Grünfläche, sogeht das einmal im Kreis herum. Jan Drews möchte, dass das so bleibt. Egal, wie sehr Berlin noch wächst und wie viele Menschen in den kommenden Jahren ins Umland ziehen werden. „Der Platz ist da“, sagt er. Eine kleine Fusion Die Landkarte mit dem Stern hängt im Bürovon JanDrews,das sich wiederum im Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung in Potsdam befindet. Er leitet dort eine Abteilung mit dem Namen Gemeinsame Landesplanung, und wenn man weiß, was deren Aufgabe ist, versteht man auch, warum Jan Drews der Sternsowichtig ist. Er geht etwas weiter zurück, um die Funktion seines Amtes zu erklären: ins Jahr 1996. Es sollte das Jahr sein, in dem Berlin und Brandenburg ein Bundesland werden. Der Staatsvertrag war schon geschrieben, die Regierungschefs –Manfred Stolpe in Brandenburg und EberhardDiepgen in Berlin –warben unermüdlich für die Länderfusion, und dann kam der Tag des Volksentscheids, und die Brandenburger stimmten dagegen. Einige Institutionen hatten schon begonnen, zusammenzuarbeiten, auch zwei Ämter für Landesplanung in Berlin und Potsdam. Man beschloss, sie nichtsdestotrotz zu einem Amt zu machen. Eine kleine Fusion sozusagen. Auch wenn die Verwaltungen getrennt blieben, würden sich Berlin und Brandenburg auf Dauer näherkommen, auf jeden Fall entlang der Landesgrenzen –und da schien es ratsam, gemeinsam zu steuern, was wo gebaut wird. Es war eine besondere Situation: ein Bundesland, das eine Großstadt von allen Seiten umschloss. Und eine Großstadt, die voneiner Mauer jahrelang am Wachsen gehindert wurde, ihreeine Hälfte zumindest. Daswürde sich nun schnell ändern, glaubte man damals. 1990 war die einhellige Meinung, dass in Berlin und Umland bald zehn Millionen Menschen leben würden. Es kam anders,heute sind es erst sechs Millionen. In den ersten Jahren nach dem Mauerfall zogen viele Menschen nach Berlin und viele aus Berlin Brandenburg ist groß und ziemlich leer,Berlin dagegen eng und voll –dalässt sich doch wasmachen? ISTOCKPHOTO; BLZ/PONIZAK (2) in den sogenannten Speckgürtel, dann flachte beides wieder ab. Berlin war damit beschäftigt, hip und aufregend zu werden, Brandenburg hatte mit Abwanderung und Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Mankümmerte sich nicht umeinander. Dass sich das langsam ändert, hat mit dem Bevölkerungsanstieg zu tun, den Berlin seit 2010 verzeichnet und den selbst das nüchterne Landesamt für Statistik „rasant“ nennt: im Durchschnitt 43 000 Menschen im Jahr. Die Vorzeichen hat Jan Drews schon früher ausgemacht, 2006, dem Jahr der Fußball-WM in Deutschland. „Ab da wurde Berlin entdeckt.“ Er sieht Ulrike Kessler an, die nickt. Ulrike Kessler ist Drews’ Stellvertreterin und gleichzeitig der <strong>Berliner</strong> Teil dieser Berlin-brandenburgischen Behörde. Sie ist bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt angestellt, Jan Drews beim Brandenburger Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung. Auch 13 ihrer gut 60 Mitarbeiter kommen aus Berlin. Bei der Arbeit merke man aber nicht, dass die eine gewissermaßen Berlin vertritt und der andere Brandenburg, sagen beide. Zumal Jan Drews eigentlich aus Hamburg kommt und in Berlin-Friedrichshain wohnt und Ulrike Kessler aus Baden- Württembergist und in Potsdam lebt. Nurdie Tassen erinnerndaran.VorUlrike Kessler steht eine mit dem <strong>Berliner</strong> Bären drauf, vor Jan Drews eine mit dem Brandenburger Adler. Ulrike Kessler hat sie im Souvenir-Shop von Schloss Sanssouci gefunden und sie sich und ihrem Kollegen mitgebracht. Gemeinsam sollen sie in geordnete Bahnen lenken, was „seit zwei, drei Jahren so richtig Fahrt aufgenommen hat“, sagt Ulrike Kessler: Stern statt Brei Berlin wächst nach außen –und da fängt gleich Brandenburg an. Ein eigenes Amt soll dafür sorgen, dass das Umland vor den Fehlern anderer Metropolenräume bewahrt wird VonPetraAhne Zumindest in der Gemeinsamen Landesplanungsabteilung sind Berlin und Brandenburg eins: Amtsleiter Jan Drews ist ein Brandenburger Beamter,seine Stellvertreterin UlrikeKessler ist bei der Senatsverwaltung in Berlin angestellt. Bauanträgewerden jedes Jahr in Berlin und Brandenburg gestellt. Die Hauptstadt wächst, und zwar nach außen. Berlin wird immer teurer und voller, Zehntausende Menschen ziehen ins Umland, sie brauchen Wohnungen, Häuser, Schulen, Kitas, Einkaufsmöglichkeiten, Verkehrsverbindungen. All das soll nicht irgendwo entstehen –sondern dort, wo die Gemeinsame Landesplanungsabteilung es als am besten für Mensch und Landschaft ansieht. Und hier kommt der Stern von der Landkarte ins Spiel. Der ist auch so eine Berlin-brandenburgische Besonderheit, der Mauer geschuldet. Die Siedlungsstern genannte Struktur hat sich bis in die 20er-, 30er- Jahre rund umviele Großstädte entwickelt: Gebaut wurde entlang der Bahnstrecken, so konnte man ein Stück entfernt von der Stadt leben und doch schnell dort sein und arbeiten. Dann kamen die Autos und mit ihnen das Gefühl, sich jederzeit überallhin bewegen zu können und nicht auf so träge Einrichtungen wie Züge angewiesen zu sein.Wasdas für die Städte bedeutete, sieht man auf einem Papier,das JanDrews jetzt auf den Tisch legt. „Wachstum steuern statt ,Siedlungsbrei‘“ steht darüber. Auf einem Bild ist wieder Berlin mit seinem Stern zusehen, auf zwei anderen London und Mailand mit Umgebung: jeweils eine fast schwarze runde Fläche mit wenigen helleren Stellen dazwischen. DieStadt ist wild in die Vororte hineingewuchert, zersiedelte Flächen, viel Verkehr und wenig Grün sind die Folge. Die Geschichte hat Berlin und Brandenburgvor so einemFehler bewahrt. Undnun soll das Amt für Gemeinsame Landesplanung das Gleiche tun. Der „Metropolenraum“ soll sich entlang der historischen Bahnstrecken entwickeln, die nach Frank- furt (Oder), Belzig oder Rathenow führen und Naturflächen wie die Döberitzer Heide im Westen oder die Barnimer Feldmark im Nordosten unangetastet lassen.„Soeinen Schatz darf man nicht aufgeben“, sagt Jan Drews. Es sei dennoch Platz für über 500 000 neue Wohnungen. Und die neu Zugezogenen haben nicht nur eine CO 2 -sparende Bahnverbindung in Reichweite,sondernauch Natur. Es ist nur so eine Sache mit dem Blick von außen: Er verschafft Überblick, aber der, der drinsteckt in Alltag und Problemen, hat nicht unbedingt einen Sinn für das große Ganze. Deswegen kommt es nicht immer gut an, dass über die Zukunft von Städtchen wie Zossen oder Königs Wusterhausen Menschen mitentscheiden, für die jene Städtchen Punkte auf der Landkarte in ihrem Büro sind. Und der Bürgermeister etwa mitgeteilt bekommt, dass der vorgesehene Standort für die 200 Wohnungen, die ein Investor plant, nun mal als Grünfläche ausgewiesen sei –und man einen anderen Bauplatz finden müsse. Jeder in Berlin und Brandenburg gestellte Bauantrag kommt in der Abteilung für Gemeinsame Landesplanung an, 1200 sind es im Jahr. Auch deswegen stößt der „Landesentwicklungsplan Hauptstadtregion“, der zurzeit neu entwickelt und im kommenden Jahr im Kraft treten wird, mitunter auf Kritik. Ganz Brandenburg wird darin zur Hauptstadtregion, was schick klingt, den Bewohnern des Dorfes in der Prignitz, in dem es keinen Laden und keinen Arzt mehr gibt, vermutlich aber nur ein müdes Lächeln entlockt. Anreizefür künftige Pendler Dass auch sie am Ende etwas von dem Plan haben sollen, ist nicht so einfach zu vermitteln. Etwas einfacher ist es beim Konzept der „Städte in der zweiten Reihe“, was etwas vonoben herab klingt, aber nicht so gemeint ist. JanDrews legt noch ein Papier mit einer Landkarte auf den Tisch.VonBerlinaus gehen Strahlen in alle Richtungen, sie enden an Städten: Eberswalde, Luckenwalde Nauen, Gransee. Sie sind mit der Bahn in 30 oder 45 Minuten zu erreichen. So lange sitzt man auch in der U-Bahn, wenn man von Wedding nach Dahlem fährt. Dann könnte man doch ebenso gut nach Eberswalde oder Luckenwalde ziehen –das ist die Idee, für die Jan Drews und Ulrike Kessler derzeit werben, auch in den Ortschaften selbst. Denen schlagen sie zum Beispiel vor, in denoft unwirtlichen Zonen rund um die Bahnhöfe statt Parkplätzen Wohnviertel anzulegen,als Anreizfür künftige Pendler. Siemögen dieseTermine vorOrt, sagen beide. Weil esdoch wichtig ist, Brandenburg hin und wieder mit eigenen Augen zu sehen. Und nichtnur aus der Ferne, im Maßstab 1:300 000. PetraAhne findet, dass Siedlungssternviel netter klingt als Speckgürtel. OL
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018 – S eite 21 * ························································································································································································································································································· Hugo, 0Jahre Josephine, 10 Jahre Shabnam, 20 Jahre Christophe, 30 Jahre Wersind eigentlich die <strong>Berliner</strong>? Wasmachen sie? Wasdenken sie über ihre Stadt? Und was wünschen sie sich für die Zukunft? Hier sind elf von 3,7 Millionen Einwohnern Berlins, je eine oder einer aus jeder Generation – von 0Jahren bis 100 Jahren Maria, 40 Jahre Fotos: Benjamin Pritzkuleit Berlin von null auf hundert Barbara, 50 Jahre Martin, 60 Jahre Friedemann, 70 Jahre Günter,80Jahre Lotte, 90 Jahre Artur,100 Jahre