Berliner Zeitung 17.11.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018 15<br />
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4Millionen<br />
Einwohner hatte Berlin am 31. Dezember 1942.<br />
Arbeitsamt Südost, Sonnenallee, Neukölln 1931: Der Börsenkrach von 1929 wirkt nach. BPK/KUNSTBIBLIOTHEK, SMB, PHOTOTHEK WILLY RÖMER Friedrichstraße 1929: Chauffeure dürfen laut Gesetz Fußgänger „in keinem Falle“ belästigen. ULLSTEIN BILD<br />
Orenstein &Koppel, Knorr-Bremse<br />
und Nationale Automobil-Gesellschaft<br />
(NAG) sowie dem Bekleidungsgewerbe<br />
mit Klein- und Alleinbetrieben.<br />
Aufsehen erregt Berlin in Wissenschaft,<br />
Forschung und Technik. Am<br />
Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik<br />
ist AlbertEinstein seit 1917 Direktor,<br />
am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie<br />
forschen Otto Hahn und Lise<br />
Meitner. Ander Charité entschlüsselt<br />
Otto Heinrich Warburg1926 den<br />
Stoffwechsel inTumoren; damit setzt<br />
er einen Meilenstein in der Krebstherapie.<br />
Und bei der Funkausstellung<br />
1928 gibt es am Stand vonTelefunken<br />
die erste öffentliche Vorführung<br />
vonFernsehbildern.<br />
Die Entwicklung der Stadt zu einer<br />
Weltmetropole ist auf keinem<br />
Gebiet so offenkundig wie auf dem<br />
der Kultur: Es gibt zeitweise vier<br />
Opernhäuser und drei große Revuetheater,<br />
drei Varietés, zahlreiche<br />
Theater, Kabaretts und Kleinkunstbühnen,<br />
manche mit Nackttanzauftritten<br />
von Anita Berber, der Femme<br />
fatale jener Jahreschlechthin.<br />
Eine ungehemmte Lebenslust<br />
bricht sich Bahn. Freizeit ist eine<br />
große Sache.Zerstreuung finden <strong>Berliner</strong><br />
bei Ausflügen ins Jrüne,inSportund<br />
Gesangsvereinen, auch in der<br />
Freikörperkultur-Bewegung. Junge<br />
Leute frönen dem Shimmy, Charleston<br />
und Black Bottom; die Tänzer<br />
schütteln sich Langeweile oder Sorgen<br />
vomLeib.Besucher aus aller Welt<br />
strömen in die Stadt, ganz im Sinne<br />
des Schlagworts (und Liedes) „Jeder<br />
einmal in Berlin“, mit dem das Ausstellungs-,<br />
Messe- und Fremdenverkehrsamt<br />
wirbt.<br />
„Es gab kaum noch eine Straße,in<br />
der sich nicht ein Nachtlokal etablierte,<br />
manchmal nur mit sechs<br />
oder acht Tischchen“, erinnert sich<br />
der Journalist und Schriftsteller Curt<br />
Riess. Und: „Es war schick, Rauschgifte<br />
zu nehmen. Kokain war eine<br />
Zeit lang Mode.Man bekam es in jedem<br />
zweiten Nachtlokal bei der Toilettenfrau<br />
…“ Kleinste (gestreckte)<br />
Mengen gab es in der südlichen<br />
Friedrichstraße ab 1,50 Mark.<br />
DasBabel der Welt<br />
Auch das Geschäft mit der käuflichen<br />
Liebe boomt. Erlaubt ist, was<br />
gefällt, auch gleichgeschlechtliche<br />
Liebe. Von der Elends- bis zur Edelprostitution:<br />
Sexkann sich fast jeder<br />
leisten. Jeder kommt vornehmlich<br />
aus der Provinz oder dem Ausland.<br />
Undjedes Verlangen wirdgestillt. Jedes.<br />
Zur Verfügung stehen Frauen<br />
und Mädchen, Männer und Jungs,<br />
Schwangere, Greise,Versehrte ... Der<br />
Schriftsteller Stefan Zweig sieht in<br />
Berlin „das Babel der Welt“.<br />
Undindiesem Babel blüht die organisierte<br />
Kriminalität, deren Säulen<br />
die Ringvereine sind. Ende 1929, als<br />
die Weltwirtschaftskrise Fahrt aufnimmt,<br />
gibt es in Berlin 60 Ringvereine<br />
mit 1600 Mitgliedern: Taschenkrebse<br />
(Taschendiebe) und Öler<br />
(Wechselgeldbetrüger), Schutzgeldeintreiber<br />
und Wettbetrüger sowie,<br />
ganz oben in der Hierarchie,Schränker<br />
(Safeknacker).<br />
Berlin bleibt „ein Konglomerat<br />
zusammengebündelter Städte und<br />
Dörfer unterschiedlichster Struktur“,<br />
wie die Schriftstellerin Annemarie<br />
Lange schreibt. Und noch etwas<br />
bleibt: die soziale Kluft zwischen<br />
den Bezirken. Die nördlichen, östlichen<br />
und südlichen Stadtgebiete,wo<br />
viele Arbeiterfamilien hausen, sind<br />
besonders armdran.<br />
Suche nach dem Absoluten<br />
Golden sind die Zwanziger nur für<br />
eine Minderheit.<br />
Die Gebrüder Max, Leo und Willi<br />
Sklarek sind Teil dieser Minderheit.<br />
Und als Textilunternehmer, die auf<br />
Geheiß von Berlins Oberbürgermeister<br />
Gustav Böß alle Stadtbediensteten<br />
einkleiden dürfen, sind<br />
sie verantwortlich für den größten<br />
Kreditbetrugs- und Korruptionsskandal<br />
der Republik. Er kostet die<br />
Stadt zehn Millionen Mark und Böß<br />
das Amt. Undstärkt die demokratiefeindlichen<br />
Kräfte.<br />
Als „Chaos von Städten“ schätzt<br />
der Arzt und Schriftsteller Alfred<br />
Döblin, der an der Frankfurter Allee<br />
wohnte, Berlin. Das„rebelliert, konspiriert,<br />
brütet rechts, brütet links,<br />
demonstriert. Mieter, Hausbesitzer,<br />
Juden, Antisemiten, Arme, Proletarier,<br />
Klassenkämpfer, Schieber, abgerissene<br />
Intellektuelle, kleine Mädchen,<br />
Demimonde, Oberlehrer, Elternbeiräte,<br />
Gewerkschaften, zweitausend<br />
Organisationen, zehntausend<br />
<strong>Zeitung</strong>en, zwanzigtausend<br />
Berichte, fünfWahrheiten. Es glänzt<br />
und spritzt. Ich müßte ein Lügner<br />
sein, wenn ich verhehle: Öfter<br />
möchte ich auskneifen, das Geld<br />
fehlt; aber ebenso oft würde ich zurückkehren.“<br />
Die zwanziger Jahre sind glanzund<br />
unheilvoll zugleich. Was auch<br />
geschieht und nicht geschieht –<br />
schuld ist die Republik. Als ihr Ende<br />
maßgeblich beeinflussend erweisen<br />
sich die Jahre 1923: Hyperinflation;<br />
1925: Tod des Reichspräsidenten<br />
Friedrich Ebert und Wahl Paul von<br />
Hindenburgs als Nachfolger, der die<br />
Dolchstoßlegende miterfand, die<br />
Demokratie mitauszehrte und Adolf<br />
Hitler zum Reichskanzler ernannte;<br />
1929: Toddes Reichsaußenministers<br />
Gustav Stresemann, der 1926 zusammen<br />
mit seinem französischen<br />
Amtskollegen Aristide Briand den<br />
Friedensnobelpreis erhalten hatte,<br />
und Beginn der Weltwirtschaftskrise.<br />
Voneiner nie dagewesenen intellektuellen<br />
Fruchtbarkeit seien die<br />
zwanziger Jahre gewesen, „genährt<br />
von dem nervösen, neurotischen<br />
Gefühl der Unsicherheit und Unbehaustheit“,<br />
schreibt der Historiker<br />
Hagen Schulze. „Die Suche nach<br />
dem Absoluten, dem zeitlos Gültigen,<br />
der großen Einheit, nach dem<br />
vollkommen Neuen und der neuen<br />
Vollkommenheit eint die Richtungen<br />
über alle weltanschaulichen Abgründe<br />
hinweg.“<br />
Viele Großstädte erlebten diese<br />
Fruchtbarkeit: NewYork, London, Paris.<br />
Beiden Amerikanernund den Briten<br />
hießen jene Jahre „The Roaring<br />
Twenties“, die stürmischen, wilden,<br />
Manches schmilzt<br />
in der Sonne.<br />
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unberechenbaren Zwanziger;bei den<br />
Franzosen hießen sie so,wie sie wirklich<br />
waren: „Les Années Folles“ –Die<br />
verrückten Jahre. Für Peter de Mendelssohn,<br />
der 1926 in Berlin eine Karriereals<br />
Journalist begann, waren die<br />
Zwanziger „eigentlich das Jahrzehnt<br />
Berlins (…) In diesen Jahren gab Berlin<br />
sein Bestes;und das war viel. Natürlich<br />
war ein guter Teil davon ,Größenwahn‘<br />
und ,Schall und Rauch‘,<br />
Betrieb,Geschwätz, ,Tempo‘ um seiner<br />
selbst willen. Aber was an solider<br />
Leistung und Anregung blieb,hat die<br />
übrige Welt auf Jahreund Jahrzehnte<br />
hinaus befruchtet.“<br />
Am Ende der Zwanzigerjahre<br />
häufen sich aber auch die faulen<br />
Früchte. Und in ihnen gärt ein Größenwahn,<br />
der Verderben über die<br />
Welt bringt.<br />
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gutgeschrieben.<br />
Michael Brettin<br />
zweifelt bisweilen, dass wir<br />
aus der Geschichte lernen.