Berliner Zeitung 17.11.2018
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24 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · 1 7./18. November 2018<br />
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4Millionen<br />
Shermin Langhoff, 49, Intendantin<br />
des Maxim-Gorki-<br />
Theaters, hat in fünf Jahren<br />
die kleinste Hauptstadtbühne<br />
in die Bühne mit der größten<br />
gesellschaftlichen Diversität und<br />
dem breitesten Programm verwandelt.Wiesieht<br />
sie die Zukunft Berlins?<br />
Im Jahr 2030 soll Berlin fast vier Millionen<br />
Einwohner haben.<br />
Das erschüttert mich nicht so<br />
sehr.Zurzeit sind es mehr als 3,7 Millionen.<br />
Also nicht ganz so viel wie<br />
1920. Damals war Berlin mit 3,8 Millionen<br />
Einwohnern nach New York,<br />
London, Tokio und Paris die fünftgrößte<br />
Stadt derWelt. 1944 hatte Berlin<br />
4,3 Millionen Einwohner.ImJahr<br />
darauf waren es noch 2,8 Millionen.<br />
Siehaben sich vorbereitet!<br />
So macht man seine Arbeit. Wissen<br />
Sie zum Beispiel, dass wir uns<br />
über die Bevölkerungsgruppe der<br />
Kleingärtner keine Sorgen machen<br />
müssen? DerSenat hat denen schon<br />
zugesichert, dass ihre Parzellen bis<br />
2030 nicht angerührtwerden.<br />
Es ist schön, dass Siedie Entwicklung<br />
so positiv sehen. Aber die Deutschen<br />
sterben doch aus?<br />
Wasdas demografische Wachstum<br />
angeht, setzen wir –trotz der Entwicklung<br />
in ein paar Straßen des Prenzlauer<br />
Bergs –unsere Hoffnungen vor<br />
allem auf die zugewanderten Deutschen<br />
oder auch Nichtdeutschen.<br />
2030 ist ja schon in zwölf Jahren.<br />
Wann endet Ihr Arbeitsvertrag?<br />
Am Ende der übernächsten Saison<br />
2020/21.<br />
Glauben Sie, dass die Frauen Fortschritte<br />
machen werden bis 2030?<br />
Keine Ahnung. Ich glaube nicht<br />
an Kaffeesatz und nicht an Horoskope.<br />
Ich glaube nicht einmal an<br />
Hochrechnungen. Täte ich das,dann<br />
müsste ich doch angesichts dessen,<br />
was in den letzten Jahren passiertist,<br />
verzweifeln. VorSarrazin hätte ich es<br />
für ausgeschlossen gehalten, irgendjemand<br />
in Deutschland könnte rassistische<br />
Behauptungen aufstellen<br />
wie zum Beispiel, Muslime seien genetisch<br />
bedingt dümmer als Deutsche,<br />
ohne ordentlich einen auf den<br />
Deckel zu bekommen. Inzwischen<br />
ist die AfD im Bundestag und in jedem<br />
Landesparlament. Ich hätte<br />
auch das vor wenigen Jahren noch<br />
für ausgeschlossen gehalten.<br />
Macht Ihnen das Angst?<br />
Angst hilft nicht. Angst lähmt. Wir<br />
leben in dem geopolitischen Dreieck<br />
Donald Trump, XiJinping und Wladimir<br />
Putin. In dem wird nach Pussies<br />
gegrapscht. Der soziale, politische<br />
und sexuelle Rückschlag gehören<br />
zusammen wie auch ihr Fortschritt<br />
zusammengehörte. Zurzeit<br />
wird alles so sichtbar. Wie in einer<br />
Karikatur. Das ruft eine große Gegenwehr<br />
hervor.<br />
Wassehen Sieda?<br />
Die 250 000 Demonstranten, die<br />
Mitte Oktober in Berlin für „Solidarität<br />
statt Ausgrenzung“ auf der Straße<br />
waren, sind mehr als ein Signal. In<br />
Deutschland befanden sich viele in<br />
einer Art Dornröschenschlaf. Die<br />
Bundesrepublik erschien ihnen so<br />
saturiert, auch demokratisch so gefestigt,<br />
dass sie glaubten, mal Urlaub<br />
vonder Politik machen zu können.<br />
An wen denken Sieda?<br />
Nicht nur an den politischen<br />
Mainstream. Ich erinnere mich<br />
noch, wie ich von einigen Kollegen<br />
an den Theatern belächelt oder gar<br />
attackiertwurde,als ich erklärte: Natürlich<br />
mache ich politisches Theater.Ich<br />
kann mir nichts anderes vorstellen.<br />
Wann war das?<br />
Als wir bereits am Ballhaus Naunynstraße<br />
Anti-NSU-Stücke machten,<br />
zogen nur wenige Bühnen mit.<br />
Heute sind einige von ihnen aufgewacht.<br />
Die „<strong>Berliner</strong> Erklärung der<br />
Vielen“ vom 9.November, die sich<br />
gegen rechtspopulistische und völkisch-nationale<br />
Strömungen wendet,<br />
wird von einer stattlichen Reihe<br />
von Theatern unterstützt. Da hat<br />
sich doch einiges geändert. Wir haben<br />
verstanden, dass Kunst und Kritik<br />
kämpfen müssen gegen die demokratiebedrohende<br />
Droge Vereinfachung.<br />
Das gehört zuihrer Praxis,<br />
zu ihrem gesellschaftlichen Auftrag.<br />
Aber wendet das Theater sich nicht<br />
an die, die es schon besser wissen?<br />
Es laufen ja nicht nur die Bildungsfernen<br />
hinter den Populisten<br />
her. Das tun auch die Besserverdienenden,<br />
die Gutsituierten. Unter ihnen<br />
Bundestagsabgeordnete fast jeder<br />
Couleur, Ärzte, Rechtsanwälte.<br />
Die bürgerliche Mitte teilt offenbar<br />
das Gefühl, dass sie oder doch jedenfalls<br />
ihre Meinungsfreiheit unterdrückt<br />
wird. Die Parole unserer Tage<br />
Wir<br />
brauchen<br />
einen langen<br />
Atem<br />
Die Zukunft ist offen –wir müssen<br />
sie gestalten, sagt die Gorki-Intendantin<br />
Shermin Langhoff. Und macht Mut<br />
Milliarden Menschen<br />
werden im Jahr 2030 auf<br />
der Welt leben.<br />
Shermin Langhoff sagt: „Natürlich mache ich politisches Theater.“<br />
BLZ/PAULUS PONIZAK<br />
lautet: „Man wirddas doch wohl mal<br />
sagen dürfen!“<br />
Und2030?<br />
Ichsagte Ihnen schon: Ichweiß es<br />
nicht. Die AfD zum Beispiel wurde<br />
erst 2013 gegründet. Bisvor ein paar<br />
Wochen gab es einen Verfassungsschutzpräsidenten,<br />
Herrn Maaßen,<br />
der rechte Verschwörungstheorien<br />
verlautbarte und den Eindruck nahelegte,<br />
dass er die AfD geschützt<br />
hat, damit die Bundesrepublik einmal<br />
voneiner CDU/CSU-AfD-Koalition<br />
regiert werden würde. Das war<br />
und ist wahrscheinlich noch immer<br />
seine politische Agenda. Dieser<br />
Mann wurde über jedes erträgliche<br />
Maßhinaus vomimmer noch amtierenden<br />
Innenminister Seehofer unterstützt.<br />
Die Gefahr geht weniger<br />
von der AfD, geht weniger von den<br />
Rechtsextremisten aus.Wichtiger ist,<br />
ob die Mitte der Gesellschaft, ob die<br />
Mitte des Parlaments, obdie Staatsorgane<br />
ihnen nachlaufen oder ihnen<br />
entgegentreten. Bei Verfassungsschützernwie<br />
Maaßen brauchen wir<br />
keine Verfassungsfeinde mehr.<br />
Keine schönen Aussichten.<br />
Ich glaube nicht an Wunder.<br />
Gleichzeitig aber denke ich, dass der<br />
momentane Zustand, der derzeit offenbar<br />
überall auf der Welt diese autoritären,<br />
demonstrativ hypermaskulinen,<br />
hyperventilierenden Jungs<br />
produziert und reproduziert, nicht<br />
anhalten kann. Sie sind doch vor allem<br />
lächerlich.<br />
Aber sie haben die Macht.<br />
DerKampf gegen sie ist ein Marathon.<br />
Wir brauchen einen sehr langen<br />
Atem. Vielleicht stimmt das Bild<br />
vom Marathon nicht. Der hat ein<br />
Ziel, ein Ende.Der Kampf gegen Rassismus,<br />
für Gleichberechtigung, für<br />
Gerechtigkeit wird immer geführt<br />
werden müssen. Manchmal gewinnt<br />
man den Eindruck, er müsse immer<br />
wieder neu geführtwerden. DieAusbeutung<br />
der Sklaverei setzt sich in<br />
den USA heute in der Form einer Kriminalisierung<br />
der Afroamerikaner<br />
und ihrer Ausbeutung in einer privatisierten<br />
Gefängnisindustrie fort. Als<br />
die Afroamerikanerin Rosa Parks<br />
sich 1955 in einem Bus inAlabama<br />
weigerte, einem Weißen ihren Platz<br />
zu räumen, wurde sie verhaftet.<br />
Dasist heute undenkbar in den USA.<br />
Widerstand, so aussichtslos er zunächst<br />
erscheinen mag, kann eine<br />
Gesellschaft positiv verändern. Das<br />
zeigt uns die Geschichte. Sie zeigt<br />
uns allerdings auch, dass wir die Zukunft<br />
nicht kennen.<br />
Kann es bei uns zu ungarischen oder<br />
polnischenVerhältnissen kommen?<br />
Ichkann mir das nicht vorstellen.<br />
Vielleicht ist das naiv. Daniel Kehlmann<br />
weist darauf hin, dass mit den<br />
sozialen Medien eine neue Öffentlichkeit<br />
entstanden ist. Er vergleicht<br />
das mit dem Buchdruck, ohne den es<br />
keine Reformation gegeben hätte.<br />
Wir stecken also mitten in einem<br />
Epochenwechsel. Mir fehlt Kehlmanns<br />
Fantasie,aber ich sehe natürlich<br />
auch, dass jede Menge der herkömmlichen<br />
Filter weggefallen sind<br />
und wir noch nicht recht sehen, wo<br />
die neuen aufgestellt werden.<br />
Wasist die Aufgabe des Theaters?<br />
Draußen wird uns ein bisschen<br />
die Show gestohlen. Es geht jetzt dort<br />
um die großen Emotionen. Umso<br />
wichtiger ist, dass wir im Theater niuns<br />
nicht hinreißen lassen, sondern<br />
uns Zeit nehmen, nachdenken und<br />
zurückblicken.<br />
Zurückblicken?<br />
Schon um dem Pessimismus zu<br />
entgehen. Er versperrt uns den Blick<br />
auf die Realitäten. Weretwa auf 1918<br />
zurückblickt, auf die Millionen Toten<br />
des ErstenWeltkriegs,auf die Krüppel,<br />
die Barrikadenkämpfe, die Armut,<br />
dem wirdklar,wie gut es uns geht. Die<br />
Frauen waren nicht alleinerziehend,<br />
sondernWitwen. DieZukunft ist offen.<br />
Wirmüssen sie machen.<br />
Wirsind nicht allein.<br />
Das ist eine gute Botschaft. Und<br />
es ist ein Verhängnis. Esmacht alles<br />
viel komplizierter.Alles,was wir tun,<br />
hat Folgen für fast die ganze Welt.<br />
Werfliegt, hinterlässt einen ökologischen<br />
Fußabdruck. Das billige<br />
Hemd, das wir kaufen, unterstützt<br />
mörderische Arbeitsbedingungen in<br />
Bangladesch. Ein teures tut das womöglich<br />
ebenfalls. Wir sind zuständig<br />
geworden für den Planeten. Es<br />
liegt an uns, wie er 2030 aussehen<br />
wird. Sielachen.Wiesind wir nur von<br />
den <strong>Berliner</strong> Kleingärten auf unseren<br />
blauen Planeten gekommen? Von<br />
vier Millionen <strong>Berliner</strong>n auf die 8,5<br />
Milliarden Weltbevölkerung im Jahre<br />
2030?Wirleben alle zusammen in einer<br />
Welt: #Unteilbar.<br />
DasGespräch führte Arno Widmann.<br />
EXKLUSIVE ADRESSEN<br />
Telefonische Anzeigenannahme: 030 2327-50