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Berliner Zeitung 01.11.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 254 · F reitag, 1. November 2019 – S eite 21 *<br />

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Feuilleton<br />

Zum 80. Geburtstag<br />

des deutsch-türkischen<br />

Dichters Aras Ören<br />

Seite 23<br />

„Was kann man dem Schlamassel entnehmen?“<br />

Ulrich Seidler sucht nach strukturellen Gründen für die Führungskrise im Theater an der Parkaue Seite 22<br />

Bushido<br />

Schluss mit<br />

lustig<br />

Christian Schlüter<br />

begrüßt ein Gerichtsurteil<br />

gegenden Rapper Bushido<br />

Okay,jetzt ist es amtlich, das Bundesverwaltungsgericht<br />

in Leipzig<br />

hat nach einigem vorinstanzlichen<br />

Hin und Her entschieden, das<br />

gemeinhin am amerikanischen<br />

Gangsta-Rap angelehnte dichterische<br />

Werk des Sprechgesangsartisten<br />

Bushido als jugendgefährdend<br />

einzuordnen. Zumindest in Teilen:<br />

In dem Verfahren ging es um Bushidos<br />

Album„Sonny Black“ (2014) und<br />

eine entsprechende Indizierung der<br />

Bundesprüfstelle am 21. April 2015,<br />

gegen die sich der <strong>Berliner</strong> Künstler<br />

juristisch zur Wehr setzte.„Diehemmungslose<br />

Gewaltdarstellung zieht<br />

sich durch die Titel“, erklärt nun der<br />

Leipziger Richter Thomas Heitz.<br />

Frauen und Homosexuelle würden<br />

durch „vulgäre Sprache“ herabgewürdigt.<br />

Die Indizierung sei deswegen<br />

rechtens.<br />

Bushido gab nach der Verhandlung<br />

zu bedenken, wie schwierig es<br />

sei, mit der Rapper-Sprache in einer<br />

„komplett anderen Abteilung<br />

auf Verständnis zu stoßen“, und bat<br />

damit implizit um Beachtung und<br />

Wertschätzung des künstlerischen<br />

Eigensinns bei seinem Schaffen.<br />

Gleichwohl zeigte er sich trotz<br />

Gangsta-Attitüde als guter Staatsbürger<br />

und akzeptierte die rechtsstaatlich<br />

gezogene Linie: „Ich bin<br />

abgeschmiert auf ganzer Linie.“<br />

Beinahe schon geläutert versprach<br />

der mittlerweile 41-Jährige auch,<br />

künftig weniger Gründe für Indizierungen<br />

zu liefern, sagte aber<br />

auch: „Ich möchte darauf aufmerksam<br />

machen, dass ich nicht frauenund<br />

schwulenfeindlich bin.“<br />

Dass Indizierungen nicht helfen,<br />

die Jugend vondem ausweisbar sexistischen,<br />

homophoben und antisemitischen<br />

Kulturgut fernzuhalten, sondern<br />

imdigitalen Zeitalter leicht zu<br />

befriedigende Anreize schaffen, ist<br />

zwar richtig. Aber darum allein geht<br />

es nicht. Denn: Bushidos Überschreitungsästhetik<br />

setzt aufs Ressentiment,<br />

insoweit es über seine Texte hinausreicht<br />

und -wirkt –erst das ist<br />

Gangsta-Style.Und dafür sind Polizei<br />

und Gerichte zuständig.<br />

Die jugendlichen Öko-Aktivisten bei einer ihrer Aktionen<br />

Gegen die Regeln<br />

Tagesaktualisiert: Die Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ hatnur noch wenig mit der Buchvorlage zu tun<br />

VonTorsten Wahl<br />

Großer Jubel im Saal, als<br />

der Politiker Horst<br />

Berndt auf dem Podium<br />

verspricht, nach seinem<br />

Wahlsieg werde inder Stadt endlich<br />

„ausgemistet“. Die Partei<br />

heißt hier „NfD“ und ähnelt in<br />

Symbolik und Vokabular stark der<br />

AfD. Der rote, nach oben zeigende<br />

Pfeil auf dem hellblauen Parteilogo<br />

ähnelt einer Welle.<br />

Wie anfällig gerade junge Menschen<br />

für einen autoritären Führerkult<br />

sind, danach hatte der Kinofilm<br />

„DieWelle“ vorelf Jahren gefragt. Der<br />

Film von Dennis Gansel basierte auf<br />

einem realen Schulexperiment, das<br />

1967 in Kalifornien durchgeführt<br />

worden. Jürgen Vogel spielte in der<br />

nach Deutschland übertragenen Geschichte<br />

einen charismatischen<br />

Lehrer, der eine totalitäre Bewegung<br />

gründet, um seinen Schülern ihre<br />

Verführbarkeit zu demonstrieren.<br />

Der Film mit Max Riemelt, Jakob<br />

Matschenz, Elyas M’Barek und Frederick<br />

Lau war mit 2,5 Millionen Zuschauernein<br />

großer Kinoerfolg.<br />

Dennis Gansel und sein damaliger<br />

Ko-Autor Peter Thorwarth haben<br />

„Die Welle“ nun als Serie für Netflix<br />

neu produziert–und dabei komplett<br />

umgedreht und aktualisiert. Denn<br />

die Helden, die von sich behaupten<br />

„Wir sind dieWelle“, ordnen sich keineswegs<br />

irgendeiner Autorität unter,<br />

sondernorganisieren sich selbst.<br />

Sieverabreden sich zu Aktionen<br />

gegen Plastikmüll, gegen Fastfood,<br />

gegen die sinnlose Vernichtung<br />

von teurer Kleidung, gegen Umweltzerstörer.<br />

Thematisch ist die<br />

Serie damit auf der Höhe der Zeit,<br />

sie war aber schon abgedreht, als<br />

die Bewegung „Fridays for Future“<br />

für anhaltend hohe Wellen sorgte.<br />

Statt um einen Führer schartsich<br />

die Gruppe 17-Jähriger hier um einen<br />

unangepassten Anführer: Tristan<br />

(Ludwig Simon) kommt als Freigänger<br />

aus dem Jugendknast ans Geschwister-Scholl-Gymnasium<br />

im<br />

fiktiven Meppersfeld und spricht gezielt<br />

Außenseiter an: Zazie (Michelle<br />

Bartel) wird als „Psycho“ gemobbt,<br />

Hagen (Daniel Friedl) als dicklicher<br />

Öko im Strickpulli, der gebürtige Libanese<br />

Rahis (Mohamed Issa) als<br />

„Kanake“. Vorallem aber gewinnt er<br />

die smarte Streberin Lea (Luise Befort)<br />

für sich: Sie mistet schon nach<br />

der ersten Lektürevon Naomi Kleins<br />

„No Logo“ ihren Kleiderschrank aus<br />

und stellt dem Zuschauer immer<br />

wieder die entscheidenden Fragen:<br />

„Was würdest du riskieren für deine<br />

NETFLIX<br />

Ideale, deine Zukunft?“ Zugleich behauptet<br />

sie: „Wir werden die Welt<br />

nicht verändern, wenn wir uns an<br />

die Regeln halten!“ Lea ist auch diejenige,<br />

die die eigenen Methoden<br />

immer wieder infrage stellt.<br />

Mag die starke Typisierung der<br />

Fünfer-Clique anfangs noch wie das<br />

Element einer typischen Jugendserie<br />

wirken, so schaffen es die Schauspieler<br />

schnell, sich freizuspielen, echte<br />

Individuen zu verkörpern. Ludwig<br />

Simon strahlt Kraft und Charisma<br />

aus, Luise Befort, in der TV-Serie<br />

„Club der roten Bänder“ als magersüchtiger<br />

Teenager aufgefallen, besitzt<br />

ein ungemein ausdrucksstarkes<br />

Gesicht –die Netflix-Welle wird ihr<br />

großes Talent in alle Welt hinaustragen.<br />

Dabei gestattet sich die Serie<br />

auch viele private Momente. Wie<br />

hier nebenbei drei junge Paare zusammenfinden<br />

und um ihreFreundschaft<br />

kämpfen, das ist anrührend<br />

und komisch zugleich. Selten hört<br />

man so frische, ungekünstelte Dialoge<br />

wie hier.<br />

Viel Sorgfalt verwendet die Serie<br />

darauf, die Protestaktionen der jungen<br />

Anarchisten wirklich kreativ und<br />

originell aussehen zu lassen –ihre<br />

Videos sorgen schließlich schnell für<br />

Nachahmer in ganz Deutschland. So<br />

werden die Anleger eines Immobilienfonds<br />

auf einer Gala erst zu einem<br />

makabren Applaus gegen die Schwachen<br />

der Welt animiert –dann werden<br />

ihnen Heuschrecken auf dem<br />

Silbertablett serviert. Und der<br />

deutschnationale Brandredner aus<br />

der Ouvertüre wird nach einer trickreichen<br />

Entführung auf eine ganz<br />

besondereWeise bloßgestellt.<br />

Dramaturgisch haben Autoren<br />

und Regisseure alles richtig gemacht:<br />

Dramatik und Spannung<br />

steigen, angetrieben von pulsierenden<br />

Elektroklängen, von Folge zu<br />

Folge, weil die Aktionen immer riskanter<br />

werden, ihnen die Polizei immer<br />

näher kommt. Ihr Hauptverfolger<br />

ist ein zynischer Kommissar, der<br />

im Angesicht der jungen Vegetarier<br />

vor dem Schlachthof ein Kalb erschießt,<br />

beim Verhör genüsslich ein<br />

Mettbrötchen kaut –und im übrigen<br />

heimliches Mitglied der NfD ist.<br />

Während der Kommissar durchaus<br />

interessante Züge bekommt, denn er<br />

kämpft verzweifelt um seinen Posten<br />

und um seinen Sohn, werden die<br />

Schulnazis hier stets als hässliche<br />

Deppen vorgeführt. Geschlagen sind<br />

sie jedoch nicht: Der Ausgang bietet<br />

reichlich Anknüpfungspunkte für<br />

eine zweite Staffel.<br />

Wirsind die Welle 6Teile, ab Freitag bei Netflix<br />

NACHRICHTEN<br />

HeikoMaas und Anselm<br />

Kiefer ausgezeichnet<br />

Bundesaußenminister Heiko Maas<br />

und der Künstler Anselm Kiefer werden<br />

vomJüdischen Museum Berlin<br />

mit dem Preis für Verständigung und<br />

Toleranz ausgezeichnet. Maas habe<br />

sich fortwährend für ein vereintes<br />

Europa ausgesprochen und früh<br />

klareWorte im Kampf gegen Rechtspopulismus<br />

und Antisemitismus gefunden,<br />

erklärte das Museum am<br />

Donnerstag in Berlin. Im Falle Kiefers<br />

würdigte das Museum, dass der<br />

Künstler mit seinen monumentalen<br />

Arbeiten schon 1969 das Schweigen<br />

der Deutschen über den Nationalsozialismus<br />

und die Schuld am Holocaust<br />

gebrochen habe.Die Auszeichnungen<br />

werden den Preisträgernam<br />

16. November überreicht. (dpa)<br />

Bischofskonferenz kritisiert<br />

Film über Benedikt XVI.<br />

DieDeutsche Bischofskonferenz hat<br />

eine Kinodokumentation über den<br />

früheren Papst Benedikt XVI. als<br />

„unseriös“ kritisiert.„Der Film zeichnet<br />

insgesamt ein starkverzerrtes<br />

Bild vonKardinal Joseph Ratzinger/Benedikt<br />

XVI.“, ließ der Sprecher<br />

der Bischofskonferenz, Matthias<br />

Kopp ,verlauten. In dem Film „Verteidiger<br />

des Glaubens“ wirft der Regisseur<br />

Christoph Röhl Benedikt XVI.<br />

vor, nicht genug gegen den sexuellen<br />

Missbrauch in der Kirche getan zu<br />

haben. Es sei ihm in erster Linie um<br />

das Ansehen der Kirche und nicht<br />

um den Schutz der Opfer gegangen.<br />

Kopp bezeichnete dies als „fehlerhafte<br />

Interpretation“. Benedikt sei<br />

immer „eine treibende Kraft gegen<br />

Missbrauch“ gewesen. (dpa)<br />

Sting bekommt in Berlin<br />

Preis für sein Lebenswerk<br />

Derbritische Rockmusiker Sting<br />

(68) bekommt beim neuen Musikpreis<br />

IMA den „HeroAward“ für<br />

sein Lebenswerk. DerfrühereSänger<br />

der Band The Police soll zudem<br />

bei der Verleihung am 22. November<br />

in Berlin auftreten. Dievom<br />

Musikmagazin „Rolling Stone“ präsentierten<br />

International Music<br />

Awards sind die ersten Musikpreise<br />

nach dem Ende des Echo voreineinhalb<br />

Jahren. (dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Freunde<br />

Ich mach ja<br />

Sachen!<br />

VonAndreas Scheffler<br />

HENDRIK JONAS<br />

Eine Organverpflanzung steckt man nicht<br />

so einfach weg, und auch, wenn die<br />

Schläuche weitgehend entfernt und die<br />

Überwachungsgeräte abgebaut worden<br />

sind, könnte niemand behaupten, dass ich<br />

bereits wieder ein voll funktionsfähiges Mitglied<br />

unserer Gemeinschaft sei.<br />

Noch immer begleitet mich ein Gefühl<br />

der Benommenheit und Schwäche, und so<br />

liege ich matt im Krankenbett, während<br />

mein Körper mit seiner Regeneration beschäftigt<br />

ist. Meine Freunde sind allesamt<br />

liebe Menschen, die freilich ab und an unbedacht<br />

handeln. Ichwusste,dass am heutigen<br />

Tagdas jährliche Abgrillen stattfindet und<br />

hatte die im Folgenden dokumentierte<br />

Heimsuchung im Grunde meiner Seele befürchtet,<br />

was mir aber entfallen war, als das<br />

Telefon kurzvor der „Tagesschau“ klingelte.<br />

„Hallo Andreas“, tönt die Stimme von<br />

Herwart, dem Gastgeber der Grillgesellschaft,<br />

„wir wünschen dir alle gute Besserung!“<br />

Es ist auf Raumton geschaltet, und ich<br />

höre imHintergrund jemanden „zwo, drei“<br />

vorzählen, dann Gesang: „Ja, immer, immer<br />

wieder geht die Sonne auf! Undimmer bringt<br />

ein Tagfür uns ein Li-hi-hicht …“ Es klingt<br />

unschön, aber wenigstens belassen sie es<br />

beim Refrain. EinKlassiker vonUdo Jürgens.<br />

Hätte das der Meister gewollt? Dass untalentierte<br />

Chöresein Liedgut übers Telefon an<br />

Krankenbetten grölen? Ein kurz aufgekommener<br />

fröhlicher Impuls ist schon wieder<br />

verschwunden im Bewusstsein, dass es hier<br />

allenfalls in zweiter Linie um persönliche Zuwendung<br />

geht. Irgendjemand ist, auch unter<br />

dem Einfluss geistiger Getränke, plötzlich<br />

auf die Idee gekommen „Lasst und alle zusammen<br />

Andreas im Krankenhaus anrufen.<br />

Der freut sich bestimmt.“ Ich würde mich<br />

über beinahe jeden einzelnen Anruf vermutlich<br />

wirklich freuen, aber zu vermuten, ich<br />

würde einen Gruppenanruf mit Raumton<br />

goutieren, der einen polterigen Eventcharakter<br />

vorgibt, ist eine schwere Verkennung<br />

der Realität. Es ist wie Mitmachtheater,<br />

in das man vollkommen unvorbereitet hinein<br />

expediert wird, nur dass die Initiatoren<br />

des Spektakels genau solche dilettierenden<br />

Laien sind wie ich.<br />

Nun wandert das Telefon reihum, aber<br />

nach wie vor hören alle mit. „Mensch, du<br />

machst ja Sachen!“, höre ich Anne und<br />

denke: Nein, ich mache gar nichts. Ich liege<br />

nur rum. Aber ich sage: „Nun ja, ich hab ja<br />

auch drei Jahre drauf gewartet.“ Der Zyniker<br />

in mir denkt: Kinder,wie die Zeit vergeht.<br />

„Kinder, wie die Zeit vergeht!“, ruft jemand<br />

aus dem Raum,und ich muss beinahe<br />

grinsen. In den nächsten zehn Minuten tausche<br />

ich mit jeden einzelnen ein, zwei Floskeln.<br />

Das Zusammen-Jemanden-Anrufen<br />

erlaubt nur Gemeinplätze.<br />

„Sven will dir auch noch was sagen“, behauptet<br />

schließlich Jutta, und ich sehe den<br />

stillen Sven gleichsam vor mir, wie er kopfschüttelnd<br />

und mit abwehrenden Gesten signalisiert,<br />

dass er bei diesem Quatsch auf<br />

keinen Fall mitmachen will. „Los,Sven, Andreas<br />

freut sich“, wirdder Arme bedrängt, und<br />

jetzt muss ich, der eigentlich Genötigte,auch<br />

noch eingreifen und in die Runde rufen:<br />

„Hallo,Sven, ist schon okay.Wir telefonieren<br />

später noch mal!“ –Erleichterung! –„Jau, so<br />

machenwir das“, höreich seineStimme,und<br />

hoffe, das Gewürge hat nun ein Ende. Tatsächlich<br />

kann ich mich knapp verabschieden,<br />

mache das Licht aus und denke als letzten<br />

Gedanken dieses Tages: Schlafen ist die<br />

beste Medizin.

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