Berliner Zeitung 01.11.2019
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8* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 254 · F reitag, 1. November 2019<br />
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Meinung<br />
Giffey<br />
ZITAT<br />
Wahlen in Zeiten<br />
des Niedergangs<br />
Elmar Schütze<br />
sieht die SPD-Politikerin vorschwierigen<br />
Entscheidungen.<br />
Ministerin? Kanzlerkandidatin? Regierende<br />
Bürgermeisterin? Am Tag<br />
nach der Entscheidung der FU, ihreDoktorarbeit<br />
zwar zu rügen aber nicht zu verwerfen,<br />
liegen allerlei Optionen vorFranziska<br />
Giffey. Jetzt, da ihre fast schon beendete<br />
politische Karriere doch noch<br />
weitergehen kann, wäre die SPD-Politikerin<br />
aber klug beraten, sich ihre nächsten<br />
und übernächsten Schritte unbedingt<br />
ganz genau zu überlegen.<br />
Es könnte der Tagkommen, an dem<br />
sich die Politikerin, auf die viele in der<br />
SPD ihre Hoffnung setzen, einer Wahl<br />
stellen muss.Eswäreerst ihrezweite.Giffey<br />
müsste also beweisen, dass sie nicht<br />
nur Umfragen gewinnen, sondern für die<br />
Partei auch liefern kann –und das in Zeiten<br />
des stetigen Niedergangs der einst so<br />
stolzen Sozialdemokratie.<br />
Ihre erste und bisher einzige Wahl absolvierte<br />
Franziska Giffey zur Bezirksverordnetenversammlung<br />
von Berlin-Neukölln<br />
im September 2016. Ein Jahr zuvor<br />
war Bezirkslegende Heinz Buschkowsky<br />
aus Altersgründen als Bürgermeister zurückgetreten,<br />
seine politische Ziehtochter<br />
Franziska Giffey übernahm mitten in der<br />
Legislaturperiode.<br />
Nach der Wahl stand Giffey als Hauptverliererin<br />
und Hauptgewinnerin fest. Sie<br />
büßte von Buschkowskys unwiederholbaren<br />
42,8 Prozent gewaltige 12,4 Prozentpunkte<br />
ein und holte 30,4 Prozent.<br />
Das war freilich immer noch berlinweit<br />
das zweitbeste SPD-Ergebnis.Giffey blieb<br />
Neuköllner Bürgermeisterin.<br />
Anderthalb Jahrespäter trug ihr die damalige<br />
SPD-Chefin Andrea Nahles das<br />
Amt der Familienministerin in der ungeliebten<br />
Neuauflage der großen Koalition<br />
an. Franziska Giffey schlug ein. Eine Wahl<br />
war dafür nicht notwendig.<br />
Autofusion<br />
Zwei Schwache<br />
werden nicht stark<br />
Stefan Winter<br />
hält das Zusammengehen vonFCA<br />
und PSA eher für eine Notfusion.<br />
Bei Fiat Chrysler (FCA) ist man immerhin<br />
ehrlich: Seit Jahren macht der Autokonzernkeinen<br />
Hehl daraus,dass er einen<br />
Partner zum Überleben braucht. Zu<br />
dünn ist die Finanzdecke nach vielen Krisen,<br />
zu mager das Know-howinZukunftstechnologien,<br />
zu schwach die Position auf<br />
wichtigen Märkten. Nun ist man bei PSA<br />
gelandet, dem Konzern mit den Marken<br />
Peugeot, Citroën, DS und Opel.<br />
Das Geschäft folgt der alten Logik der<br />
Autobranche: Fiat Chrysler ist starkinden<br />
USA und hat die attraktiveMarke Jeep im<br />
Programm, PSA ist stark inEuropa und<br />
hat das stabilere finanzielle Fundament.<br />
Zusammen würden sie einige Lücken<br />
schließen und auf Stückzahlen kommen,<br />
die die Kosten senken. Es bliebe die<br />
Schwäche in China, die beide gemeinsam<br />
haben, und das Überangebot an Mittelklassemarken.<br />
Dieeigentlich nötigen Einschnitte<br />
bei Fiat wirdman wohl aus politischen<br />
Gründen nicht wagen.<br />
So weit die alte Logik der Autowelt.<br />
Doch die neue fordertDigitalisierung, Vernetzung<br />
und Elektroantrieb. Hohe Stückzahlen<br />
sind für deren Umsetzung zwar immer<br />
noch wichtig, aber dafür muss man<br />
die Technologie erst einmal haben. Oder<br />
einen Partner mit entsprechenden Stärken<br />
finden. In der Allianz von Ford und VW<br />
etwa steuern die Amerikaner Know-how<br />
im autonomen Fahren und die Deutschen<br />
die Elektroplattformbei. FCA und PSA haben<br />
sich gegenseitig wenig zu bieten. Auf<br />
den Zukunftsfeldern hinken beide hinterher.Und<br />
schlimmer noch: Im Fusionsprozess<br />
werden erst einmal andere Themen<br />
auf der Agenda stehen. Konzerne wie VW,<br />
Toyota und inzwischen auch wieder GeneralMotors<br />
werden das Wachsen ihres Konkurrenten<br />
deshalb gelassen beobachten.<br />
Klimaschutzabkommen<br />
Die Niederländer sind ein stolzes Volk.<br />
Besonders stolz sind sie auf drei Dinge:<br />
Sie haben 2001 als erstes Land weltweit die<br />
Homo-Ehe eingeführt, was seitdem immer<br />
wieder als Totschlagargument dafür herhalten<br />
muss, dass die Niederländer auch in allen<br />
anderen Belangen Toleranzweltmeister<br />
sind. Kurioserweise höre ich auch ständig<br />
vonHolländern, wie stolz sie auf die Qualität<br />
ihrer Wege sind. Es erscheint mir zwar etwas<br />
absurd, dass sich durch schlaglochfreie Straßen<br />
solch ein gesamtgesellschaftliches Behagen<br />
erzeugen lässt, aber ich fahre auch<br />
kein Auto,also was weiß ich schon?<br />
Richtig stolz sind Niederländer aber vor<br />
allem auf ihre Englischkenntnisse. Unter allen<br />
Nicht-Muttersprachlern sprechen sie es<br />
weltweit am Besten, das hat wohl eine Studie<br />
ergeben. Ich hätte die Studie, umehrlich zu<br />
sein, nicht gebraucht, denn bei jeder erdenklichen<br />
Gelegenheit schmieren mir meine<br />
niederländischen Freunde aufs Brot, wie<br />
grottenschlecht das Englisch meiner Landsleute<br />
ist. Dass in Deutschland englische<br />
Filme und Serien fast immer synchronisiert<br />
werden, empfinden sie als ein Kapitalverbrechen<br />
an der Kunst. Der Bildungsbürger aus<br />
dem Amsterdamer Grachtengürtel konsumiert<br />
seine seichte amerikanische Romcom<br />
nämlich ausschließlich „OmU“, also im Original<br />
mit Untertiteln, abgeschmeckt mit einer<br />
ordentlichen Prise Selbstherrlichkeit.<br />
Dass ich Synchronsprecher irgendwie auch<br />
für Künstler halte und ein bisschen in die<br />
deutsche Synchronstimme vonKate Winslet<br />
Zehn Debatten in zehn Wochen.<br />
Die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,der Tagesspiegel und die Bundeszentrale<br />
für politische Bildung feiern30Jahre Meinungsfreiheit.<br />
Diese Woche: Sind wir ein Land?<br />
Argumente und Ideen bitte an<br />
leser-blz@dumont.de; Stichwort: Meinungsfreiheit<br />
Alle Debatten online unter<br />
berliner-zeitung.de/meinungsfreiheit<br />
Aus Fehlern<br />
lernen<br />
Jonathan Tschusch,<br />
hat Ost-West-Eltern. Er kritisiert, dass Deutschland<br />
immer noch nicht als Einheit gesehen wird.<br />
KOLUMNE<br />
Original<br />
mit<br />
Untertiteln<br />
Yulian Ide<br />
Autor<br />
verliebt bin, lasse ich dann meistens unerwähnt.<br />
Für übersetzte Bücher gilt übrigens dasselbe:<br />
ein wahrer Kosmopolit liest englische<br />
Romane nach hiesiger Auffassung im Original.<br />
(Und japanische, arabische, französische<br />
oder russische Bücher dann halt wohl<br />
gar nicht.) Ich lese, höre und spreche gern<br />
Niederländisch, ich habe die Sprache und Literatur<br />
an der Universität studiert. Aber<br />
BERLINER ZEITUNG/THOMAS PLASSMANN<br />
Die innerdeutsche Teilung und<br />
Migration seit 1949, insbesondereaber<br />
seit 1961, hat ihreSpuren<br />
hinterlassen und ist vor allem<br />
in Familien spürbar, die dadurch getrennt<br />
beziehungsweise zusammengeführt<br />
wurden. So auch in meiner Familie: MeinVater<br />
ist in Leipzig geboren und hat einen Teil<br />
seiner Kindheit beziehungsweise Jugend<br />
dortverbracht. 1984 hat er mit meiner Tante<br />
und meinen Großelterndie DDR auf legalem<br />
Wege nach der Bewilligung eines Ausreiseantrags<br />
verlassen. Meine Mutter ist in Solingen<br />
geboren, dort aufgewachsen und somit<br />
in der damaligen BRD sozialisiert. Das<br />
Thema der Ausreise aus der DDR wurde in<br />
meiner Kindheit gelegentlich thematisiert,<br />
meistens auf Treffen der Familie. Eswar jedoch<br />
zu keinem Zeitpunkt omnipräsent.<br />
Ichbin 2002, also 13 Jahrenach dem Mauerfall,<br />
geboren und habe von der innerdeutschen<br />
Teilung und der Wiedervereinigung bereits<br />
im Kindesalter in Form von Anekdoten<br />
erzählt bekommen: Wie inder DDR gewählt<br />
wurde,dass schon die Benutzung einer Wahlkabine<br />
verurteilt wurde,inwieferneine staatliche<br />
Kontrolle bei Handlungen –wie der Positionierung<br />
der Flagge der DDR an einem Feiertag<br />
–stattfand, aber auch, dass man wusste,<br />
dass die zugeschickten Briefe gelesen wurden.<br />
Mir fiel irgendwann auf, dass meine Mutter<br />
und meinVater unterschiedliche Erfahrungen<br />
bezüglich mancher Themen aus der Zeit ihrer<br />
Jugend aufweisen. Teilweise gab es auch intuitiv<br />
andereVerhaltensweisen, die ich beobachtet<br />
habe,etwa, dass meinVater mit Gütern, die<br />
in der DDR Luxusgüter waren, weitaus sparsamer<br />
umgeht als meine Mutter oder auch ich.<br />
AlsKind konnte ich diese Beobachtungen<br />
und Erzählungen nicht einordnen. Das ist<br />
mittlerweile anders. Denn ich nahm am Geschichtswettbewerb<br />
des Bundespräsidenten<br />
teil, für den ich eine Arbeit mit dem Titel „Die<br />
politischen und sozialen Missstände in der<br />
DDR und die daraus resultierenden Motive<br />
einer Ausreise anhand eines Familienbeispiels“<br />
schrieb. Bei meinen Recherchen bemerkte<br />
ich, dass die Anekdoten im Zusammenhang<br />
mit den politischen Missständen<br />
in der DDR stehen, die für viele ein Ausreisemotiv<br />
waren.<br />
Obwohl ich eindeutig durch mein Leben<br />
im westlichen Teil Deutschlands geprägt bin,<br />
gibt es einige ostdeutsche Einflüsse.Die Halorenkugeln<br />
sind in westlichen Teilen<br />
Deutschlands tendenziell unbekannt, meine<br />
Familie und ich kennen sie jedoch. Außerdem<br />
besitzen wir ein DDR-Backbuch, was<br />
wahrscheinlich nicht der Fall wäre, wenn wir<br />
keinen Binnenmigrationshintergrund hätten.<br />
Das mag vielleicht albern klingen, aber<br />
es sind kleine und subtile Einflüsse in meinem<br />
Leben, die mich an die Herkunft meiner<br />
Familie väterlicherseits erinnern.<br />
Ichfinde es sehr wichtig, dass sich auch die<br />
jüngere Bevölkerung mit der innerdeutschen<br />
Geschichte von1949 bis 1989 beschäftigt und<br />
auch die Möglichkeit bekommt, sich damit<br />
auseinanderzusetzen. Viele Gedenkorte bieten<br />
diese Möglichkeiten, etwa an ehemaligen<br />
Grenzübergängen und Museen wie das Haus<br />
der Geschichte in Bonn, die der Öffentlichkeit<br />
teilweise kostenlos zur Verfügung stehen. Ich<br />
denke, dass man nicht nur aus den Ereignissen<br />
der NS-Diktatur für den Aufbau und die<br />
Erhaltung einer demokratischen Gesellschaft<br />
lernen sollte.Auch die SED-Diktatur ist als solches<br />
Negativbeispiel ebenfalls mit einzubeziehen,<br />
um einen Staataufrechtzuerhalten bei<br />
dem Freiheit, Würde und Gleichheit die Kernwertedarstellen.<br />
DieRedewendung „aus Fehlern<br />
lernen“ sollte man in der heutigen Bundesrepublik<br />
umsetzen, beziehungsweise die<br />
Umsetzung jener beurteilen. Allerdings kritisiere<br />
ich die Denkweise, die Deutschland immer<br />
noch in Ost und West einteilt. In meinen<br />
Augen ist Deutschland heute ein Land und<br />
Leipzig gehört für mich zum gleichen<br />
Deutschland wieWuppertal. Mansolltenicht<br />
in der Geschichte verharren, sondernsie vielmehr<br />
studieren, um die Gegenwart und Zukunft<br />
besser zu gestalten.<br />
manchmal bekomme ich fast den Eindruck,<br />
die Niederländer selbst hassen ihre Sprache<br />
regelrecht, so bereitwillig, wie sie sie bei jeder<br />
Gelegenheit, die sich ihnen bietet, ablegen<br />
wie einen kratzigen Pullover. Kürzlich hatte<br />
ich beruflich mit einem jungen Mann zu tun<br />
–nennen wir ihn hier mal Joost –der erst tagelang<br />
nicht bemerkt hat, dass ich Ausländer<br />
bin, während wir auf Niederländisch mailten<br />
und telefonierten. Seitdem ich meine Herkunft<br />
aber mal beiläufig während eines Gesprächs<br />
erwähnt habe,beginnt er jedes Telefonat<br />
mit „Hey, this is Joost. Everything goes<br />
well?“ Ja,Joost, super geht’s,danke der Nachfrage.Aber<br />
hör doch bitte auf, meine Niederländischkenntnisse<br />
mit deinem mittelmäßigen<br />
Polder-Englisch zu beleidigen.<br />
DieNiederländer hassen ihreSprache natürlich<br />
nicht. Das merkt man immer dann<br />
am deutlichsten, wenn andere genau so<br />
achtlos mit ihr umgehen, wie sie selbst. Ständig<br />
regen sich Amsterdamer darüber auf,<br />
dass sie nicht mal mehr ihren Kaffee in einem<br />
Café in ihrer Muttersprache bestellen<br />
können, weil kaum ein Kellner in der Hauptstadt<br />
sie beherrscht. Und wehe, türkischoder<br />
marrokanischstämmige Jugendliche<br />
sprechen nicht sauberstes Oranje-Nassau-<br />
Niederländisch oder Flüchtlinge haben nach<br />
drei Jahren im Königreich noch nicht das<br />
umfangreiche Werk Willem Frederik Hermans<br />
gelesen. Denn so sehr sie hier ihreUntertitel<br />
auch lieben – den Nicht-MuttersprachlernimLand<br />
gestehen die sonst so toleranten<br />
Niederländer sie nicht zu.<br />
„Wir werden mit<br />
unseren Spenden dafür<br />
sorgen, dass Sea-Watch ein<br />
zusätzliches Schiff<br />
einsetzen kann.“<br />
Markus Dröge, Landesbischof der Evangelischen<br />
Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische<br />
Oberlausitz, in einem Interview mit der Märkischen<br />
Allgemeinen <strong>Zeitung</strong> zur Seenotrettung<br />
AUSLESE<br />
Hart<br />
und gemein<br />
Der britische Premierminister Boris<br />
Johnson wollte die vorgezogenen<br />
Neuwahlen unbedingt. Er geht davon aus,<br />
dass er sie gewinnt und mit einer eigenen<br />
Mehrheit im Unterhaus endlich den Brexit<br />
durchziehen kann. Sein Erfolg bei den<br />
Wahlen am 12. Dezember ist aber alles<br />
andere als ausgemacht. „Die Verschiedenheit<br />
der einzelnen Wahlbezirke in<br />
Kombination mit ungewöhnlich starken<br />
Schwankungen bei der Identifizierung<br />
von Wählern mit einer der Parteien machen<br />
das Ergebnis am 12. Dezember weitgehend<br />
unvorhersagbar. Der Brexit hat<br />
herkömmliche Loyalitäten durcheinandergebracht“,<br />
schreibt die Londoner <strong>Zeitung</strong><br />
Guardian.<br />
Die bulgarische <strong>Zeitung</strong> Trud hat<br />
nachgezählt: „Die Briten gehen zu den<br />
Wahlurnen am 12. Dezember zum vierten<br />
Malinden vergangenen fünf Jahren. Dies<br />
ist eine extrem erschöpfende Übung in<br />
parlamentarischer Demokratie.“ Dielettische<br />
liberale Tageszeitung Diena erkennt<br />
den besonderen britischen schwarzen<br />
Humor in dem Wahltermin. „Sosollen die<br />
Ergebnisse der anstehenden Parlamentswahlen<br />
in Großbritannien am Freitag,<br />
dem 13. Dezember,bekannt gegeben werden.“<br />
Auch die belgischen <strong>Zeitung</strong> De Tijd<br />
findet, dass für Boris Johnson ein Erfolg<br />
nicht garantiert ist. „Sicher ist nur, dass<br />
der Wahlkampf in Großbritannien hart<br />
und gemein wird und die Gemüter noch<br />
mehr erregen wird.“ Tobias Miller<br />
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