Berliner Zeitung 01.11.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 254 · F reitag, 1. November 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Ein Forensiker untersucht das Cockpit des Lkw,indessen Container 39 Menschen starben.<br />
GETTY IMAGES/LEON NEAL<br />
Es tut mir so leid, Mama und Papa –<br />
so beginnt die Serie der Textnachrichten<br />
von Pham Thi TraMyan<br />
ihre Eltern in Vietnam. „Meine<br />
Reise ins Ausland ist gescheitert. Mama, ich<br />
liebe dich so sehr.“ Dann folgt der erschütternde<br />
Satz der Tochter, inder sie alle Hoffnung<br />
aufgegeben hat: „Ich sterbe, weil ich<br />
keine Luft bekomme.“<br />
Es ist 4.28 Uhr inVietnam und 22.28 Uhr<br />
im Vereinigten Königreich, als die Familie<br />
diese Horror-SMS erreicht. Vier Stunden<br />
später, amfrühen Morgen des 23. Oktober,<br />
und beinahe 10 000 Kilometer entfernt werden<br />
Rettungskräfte in das Industriegebiet in<br />
Grays in der Grafschaft Essex gerufen, um in<br />
einem weißen Lastwagen-Container eine<br />
furchtbare Entdeckung zu machen. Darin<br />
liegen 39 Leichen. 31 Männer und acht<br />
Frauen sind tot, alle erfroren in dem bis zu<br />
minus 25 Grad Celsius kalten Kühlsystem im<br />
Innern des Lkw –ein „Metall-Sarg“, wie Medien<br />
den schalldichten Anhänger später<br />
nannten.<br />
Befand sich die 26-jährige Pham Thi Tra<br />
My unter den Opfern? Zwar ist das von den<br />
Behörden nicht bestätigt, doch die verzweifelte<br />
Familie im fernen Vietnam betrachtet<br />
das für sie so qualvolle Schweigen der Tochter<br />
als Bestätigung genug. Seit den Nachrichten<br />
an jenem Morgen gab es keinen Kontakt<br />
mehr,obwohl die junge Frau sich sonst regelmäßig<br />
während ihres Trips, der sie zunächst<br />
nach China und von dort nach Frankreich<br />
führte,gemeldet hat.<br />
Verschifft in Zeebrügge<br />
Der kalte Tod<br />
Der Leichenfund in einem Lkw in der englischen Grafschaft Essex<br />
bleibt weiterhin rätselhaft.<br />
Wurden die39Menschen, die in dem Container starben und<br />
vermutlich aus Vietnam stammten,<br />
Opfer der Organisierten Kriminalität? Sollten sie von<br />
Menschenschmugglern als Sklaven ins Königreich gebracht werden?<br />
Die Polizei in Großbritannien sowie anderen<br />
Ländern ermittelt, um sowohl die Identität<br />
der 39 Toten zu klären als auch mehr über die<br />
Hintergründe der Tragödie zu erfahren. Sie<br />
stellt sich auf eine „langwierige Untersuchung“<br />
ein, da die Migranten kaum Dokumente<br />
dabei hatten. Sie müssen mithilfe von<br />
Fingerabdrücken, DNA-Proben und körperlichen<br />
Merkmalen wie Narben oder Tätowierungen<br />
identifiziertwerden.<br />
Gegen Maurice Robinson, den 25-jährigen<br />
Fahrer des Lkw mit dem bulgarischen<br />
Kennzeichen, wurde am vergangenen Wochenende<br />
Anklage wegen Totschlags erhoben.<br />
Deraus Nordirland stammende Robinson<br />
hatte den Notruf gewählt, kurznachdem<br />
er um halb eins am frühen Mittwochmorgen<br />
den Container am Hafen Purfleet abgeholt<br />
und im nahen Industriegebiet die Leichen<br />
entdeckt hatte. Der Sattelaufleger war zuvor<br />
vom belgischen Zeebrügge auf die Insel verschifft<br />
worden.<br />
Wann und wo die Menschen in den Lkw<br />
gelangten, ist auch mehr als eine Woche<br />
nach dem schrecklichen Fund unklar. Drei<br />
weitereVerdächtige,ein Mann und eine Frau<br />
aus dem nordwestenglischen Cheshiresowie<br />
ein weiterer Mann aus Nordirland, wurden<br />
vorerst auf Kaution aus der Untersuchungshaft<br />
entlassen.<br />
Die Anklage wirft Robinson, der von<br />
Freunden nur „Mo“ gerufen wird, nicht nur<br />
Totschlag in 39 Fällen, sondern auch Menschenhandel,<br />
Geldwäsche und Verstöße gegen<br />
das Einwanderungsgesetz vor. Am Montag<br />
wurde der Nordire dem Gericht vorgeführt.<br />
Da hieß es, ersei angeblich Teil eines<br />
Netzwerks gewesen, das sich darauf spezialisiert,<br />
illegale Migranten nach Großbritannien<br />
zu schmuggeln.<br />
Wurden die 39 Menschen, die vermutlich<br />
aus Vietnam stammen, Opfer einer Gruppe<br />
der Organisierten Kriminalität? Sollten sie<br />
von Menschenschmugglern als Sklaven ins<br />
Königreich gebracht werden? Gehandelt und<br />
verkauft von Gangs, uminRestaurants oder<br />
Bordellen zu schuften?<br />
Der Fall hat auf der Insel eine Debatte<br />
über moderne Sklaverei entfacht. In dem<br />
Report„Precarious Journeys“, den mehrere<br />
Anti-Sklaverei-Organisationen mithilfe des<br />
britischen Innenministeriums erarbeitet<br />
haben, wirddeutlich, dass von2009 bis 2018<br />
mindestens 3187 Menschen aus Vietnam<br />
als potenzielle Schleuseropfer identifiziert<br />
wurden. Die Dunkelziffer, sobetonen Experten,<br />
dürfte weitaus höher liegen. Laut einem<br />
Bericht der Regierung gehen die Behörden<br />
davon aus, dass zwischen 10 000<br />
und 13 000 Menschen im Königreich in irgendeiner<br />
Form von moderner Sklaverei<br />
feststecken. Diedrittgrößte Gruppe der Opfer<br />
ist laut offiziellen Angaben jene der Vietnamesen,<br />
mehr als die Hälfte von ihnen<br />
sind minderjährig. So wie Minh einer war,<br />
als er in die Fänge von Schmugglern geriet,<br />
wie er Medien erzählte.<br />
VonKatrin Pribyl, London<br />
Als der damals 16-Jährige im Sommer<br />
2013 irgendwo nahe Dovervon der Ladepritsche<br />
des Lastwagens springt, ahnt er nicht,<br />
dass er sich im Vereinigten Königreich befindet.<br />
Minh weiß nur,dass er hier ist, um zu arbeiten.<br />
Schmuggler hatten ihn vonVietnam<br />
auf die Insel gebracht. Es ist eine gefährliche<br />
„Meine Reise<br />
ins Ausland ist<br />
gescheitert. Mama, ich<br />
liebe dich so sehr. Ich<br />
sterbe, weil ich keine<br />
Luft bekomme.“<br />
Pham Thi Tra Mystarb vermutlich im Lkw.<br />
Reise, die für viele Menschen immer wieder<br />
im Todendet. Für den Teenager sollte der<br />
wahreHorror jedoch erst mit seiner Ankunft<br />
in England beginnen.<br />
Er wird inein zweistöckiges Haus in der<br />
Grafschaft Derbyshire imNorden Englands<br />
gebracht, das einmal ein gemütliches Familienheim<br />
gewesen sein mag, hinter dessen<br />
Mauern sich aber nun eine Cannabis-Farm<br />
versteckt. Minh, so wird ihm aufgetragen,<br />
soll sich fortan um die Pflanzen kümmern,<br />
die in den Zimmern wuchern. Undsolch einen<br />
starken Geruch verbreiten, dass der<br />
Teenager nach ein paar Tagen Kopfschmerzenbekommt<br />
und vonÜbelkeit geplagt wird.<br />
Die vietnamesischen Männer gehen, sperrendie<br />
Tür ab und ihn ein. Minh ist allein.<br />
Drei Monate lang verbringt der Jugendliche<br />
hier,essind Monate voller Angst, Einsamkeit,<br />
Stress. Hinter den Rollläden gehen Tage<br />
in Nächte und wieder in Tage über.Minh sitzt<br />
in der Dunkelheit, stets getrieben von der<br />
Sorge, dass ihm das Essen ausgehen könnte,<br />
das seine Schlepper tiefgefroren in Kisten dagelassen<br />
haben und das er sich in einer alten<br />
Mikrowelle in der Küche aufwärmt. Minh<br />
weiß, er ist in ernsthaften Schwierigkeiten,<br />
sollten die Pflanzen unter den unzähligen<br />
Lampen sterben, also kümmert ersich noch<br />
mehr um deren Überleben.<br />
Einmal wagt er einen Fluchtversuch,<br />
ohne Erfolg. Die Männer sagen, sie würden<br />
ihn umbringen, sollte er noch einmal versuchen<br />
zu entkommen. „Es war wie eine andere<br />
Welt“, sagte Minh später der <strong>Zeitung</strong><br />
Guardian. „Ich fühlte mich nicht einmal<br />
mehr wie ein Mensch. Ich habe sehr schnell<br />
verstanden, dass die Pflanzen wertvoller warenals<br />
mein Leben.“ Erst als die Polizei während<br />
einer Razzia die Cannabis-Farm entdeckt,<br />
ist sein Sklaven-Dasein vorüber.<br />
Trotzdem, ein Happyend gab es nicht sofort.<br />
Vielmehr fand sich der Jugendliche gefangen<br />
im britischen System, das ihn nicht<br />
als Opfer, sondern als Kriminellen behandelte.<br />
Sein Kampf um Gerechtigkeit hat damals<br />
viele fragen lassen, wie das Land mit<br />
Kindern umgeht, die auf die Insel geschleust<br />
und versklavt werden. Im Jahr 2015<br />
wurde mit dem Modern Slavery Act ein Gesetz<br />
geschaffen, das die Hürden für die Beschäftigung<br />
vonMenschen aus bestimmten<br />
Ländernerhöht. Kritiker klagen jedoch, das<br />
Gesetz sehe zu wenig Opferschutz vor und<br />
konzentriere sich zu stark auf polizeiliche<br />
Maßnahmen.<br />
DasProblem: Da die ins Land geschmuggelten<br />
Menschen wüssten, dass sie illegal im<br />
Königreich seien, hätten sie Angst vorder Polizei<br />
und es sei extrem unwahrscheinlich,<br />
dass sie ihre desperate Lage meldeten, heißt<br />
es im aktuellen Report „Precarious Journeys“.<br />
Manche würden vielleicht nicht einmal<br />
erkennen, dass sie Opfer vonMenschenhandel<br />
seien, da sie selbst entschieden hätten,<br />
nach Großbritannien zu reisen und<br />
Schleuser dafür bezahlten, den Trip zu organisieren<br />
und einen Job für sie zu finden. Die<br />
Kosten für eine Reise liegen dem Bericht zufolge<br />
zwischen umgerechnet 9000 und<br />
36 000 Euro.<br />
DieGründe,warum es so viele Menschen,<br />
insbesondere aus Vietnam, ausgerechnet<br />
nach Großbritannien zieht, sieht die Soziologin<br />
Tamsin Barber von der Oxford Brookes<br />
Universität darin, dass es bereits ein weites<br />
Netzwerkvon Landsleuten gibt, die den Neuankömmlingen<br />
mit Unterkunft und Job helfen<br />
können. Zudem wissen die Menschen,<br />
dass sie im Königreich wahrscheinlich Arbeit<br />
finden und einiges an Geld an ihre Familien<br />
in der Heimat schicken können.<br />
DerBericht des Bruders<br />
Auf der Insel herrsche eine hohe Nachfrage<br />
nach gering qualifizierten Arbeitern, die<br />
dann in vietnamesischen Restaurants,inNagelstudios<br />
oder eben in der illegalen Industrie<br />
des Cannabis-Anbaus tätig sind. Organisationen,<br />
die sich dem Kampf gegen moderne<br />
Sklaverei verschrieben haben, warnen<br />
seit Jahren vor dem wachsenden Problem,<br />
dass vietnamesische Kinder und junge Erwachsene<br />
auf die Inselgeschleust werden.<br />
Sollte oder wollte auch die 26-jährige<br />
Pham Thi TraMy, die vermutlich zu den 39<br />
Toten gehört, in einem Nagelstudio arbeiten?<br />
Ihr Bruder erzählte einem BBC-Reporter,<br />
dass seine Schwester 30 000 Pfund, umgerechnet<br />
knapp 35 000 Euro,anMenschenschmuggler<br />
bezahlt habe. Die hätten ihr ein<br />
gutes,sorgenfreies Leben in Großbritannien<br />
versprochen. Ausgerechnet in jener Nacht,<br />
alsdie ersten Nachrichtenüber die Tragödie<br />
auftauchten, sei das Geld an die Familie zurücküberwiesen<br />
worden.<br />
Katrin Pribyl<br />
hält die Debatte über moderne<br />
Sklaverei für überfällig.