ramp#49_DE
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42 Ganz schön was los hier. ramp #49
Higgledy Piggledy
Und jedem Chaos wohnt ein Zauber inne
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Individuen, olle Durchschnittsware, gesichtslose
Automobile, spannungsarme Routinen. Dies im
strikten mentalen Gegensatz zur industriellen
Moderne, deren gloriose dreißig Jahre tatsächlich
nicht in jeder Hinsicht glorios waren, denn
hier herrschten Funktionalität, Standards,
Norm, Normalität, Gleichförmigkeit. Soziale
Kontrolle, kulturelle Homogenität und Diskriminierung
von Minderheiten waren hoch.
Das Chaos als Horror schlechthin
Heute scheint das ganz anders zu sein: Valorisiert
wird, was als singulär empfunden wird.
Als authentisch. Natürlich hat das eine Kehrseite.
Es gibt immer eine Kehrseite, wissen Sie
schon. Die Kehrseite ist: Verunsicherung. Rutschende
Werte. Zuflucht zu vermeintlichen Identitäten,
die in Wahrheit bloß Pseudo-Identitäten
sind. Der Schwund an Ambiguitätstoleranz und
die Sehnsucht nach einer Vereindeutigung der
Welt. Die Leute können das Chaos nicht mehr
ertragen, allein schon die Vorstellung davon
wird zum Alb. Deshalb laufen im Fernsehen so
viele Krimis und Quizsendungen, weil die eindeutige
Antworten versprechen.
Zugleich erleben wir eine Ökonomisierung
des Sozialen. Also ein Vordringen ökonomischer
Maximen und Rationalisierungen auch in Bereiche
wie zum Beispiel das Bildungswesen, die
Kultur oder die private Gastfreundschaft. Der
Philosoph Jürgen Habermas schreibt von einer
Kolonialisierung von Lebenswelten durch ökonomistisches
Denken. Und die Arbeitswelt polarisiert
sich in »Lovely Jobs« und »Lousy Jobs«:
faszinierende Selbstausbeutung in der Creative
Economy auf der einen, prekäre Scheinselbständigkeiten
der neuen Service Class in der Gig Economy
auf der anderen Seite. Dabei breitet sich
der Markt als Organisationsprinzip immer mehr
aus. Ob auf der Suche nach einem Partner oder
nach einem Bildungsabschluss: Verschiedene
Anbieter konkurrieren in Sachen Preis, Nutzen,
Wert, Prestige miteinander um die Gunst von
Nachfragern, die sich ihrerseits in einer Konstellation
der Wahl und des Vergleichens und auch
der Konkurrenz befinden.
Ist der Markt das Gegenteil von Chaos? Jedenfalls
unterstützt das Modell der Konkurrenz die
Prämierung von vermeintlichen Besonderheiten
und Einzigartigkeiten, und das sehen wir auch
auf dem Feld des Konsums: Konsumgüter
müssen narrative und symbolische Werte bieten;
ein schlichter Nutzwert reicht nicht mehr,
die Kuratierung und Ausstellung von Gütern
durch den Konsumenten im Rahmen des eigenen
Lebensstils wird bedeutsam. Wir sehen das am
Auto, das als Produkt ohnehin gerade eine
Selbstfindungskrise durchmacht. Die gesamte
Automobilbranche tendiert seit Beginn des
21. Jahrhunderts zu einer kulturellen Anreicherung
ihrer Produkte. Das Auto ist endgültig zum
kulturellen Gut geworden, prädestiniert für den
Geltungskonsum. Bis hin zum Statussymbol für
alle, die kein Statussymbol brauchen.
Der Wahn der Authentizität
Kehren wir zurück zum Anfang. Der Anfang des
Chaos ist die Mehrdeutigkeit, die Vagheit, das
Schillernde. Die Ambiguität. Wir haben festgestellt,
dass die Ambiguität immer schlechter
ertragen wird. An die Stelle der Auseinandersetzung
mit dem Anderen ist eine Hermetik des
Eigenen getreten, ein maßlos überzogenes Ideal
von Authentizität. Liegt die oft beklagte Verschärfung
des Tons in der gesellschaftlichen
Debatte auch darin begründet, dass sich die
Gesellschaft neuerdings stärker kulturell als
materiell differenziert? Oder, präziser: Wie weit
ist es von der sozialen Logik des Besonderen zur
Identitätspolitik? Identitätspolitik ist schließlich
die politische Betonung dessen, was man ist oder
zu sein meint (das ist für Identitätspolitiker, egal
ob von rechts oder links, regelmäßig wichtiger
als das, was man denkt oder anstrebt). Bei Identitätspolitik
geht es immer um Gruppenidentitäten,
sie ist insofern das gerade Gegenteil von
Individualismus. Auch hier ist die soziale Kontrolle
hoch. Trotzdem kann man sie mit dem
Streben nach Besonderheit in Verbindung bringen.
Sehr eindrücklich tut dies der Politikwissenschaftler
Francis Fukuyama in seinem Buch
»Identität«. Fukuyama sagt: Wenn Menschen auf
der Suche nach dem Authentischen und Besonderen
tief in sich blicken, finden sie oft: nichts.
Sie finden keine einzigartige Person. Was tun sie
dann? Sie suchen sich das nächstliegende Kollektiv.
Der Mensch bleibt eben oft genug trivial.
Identitätspolitik ist die Idiotenantwort auf
das Chaos. Hierzu lese man den soeben (erst) auf
deutsch erschienenen Essay von George Orwell
aus dem Jahre 1945 mit dem Titel »Über Nationalismus«.
Von Nationalismus spricht Orwell in
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