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Marbacher Magazin 148: Der Wert des Originals

Das 2014 erschienene Marbacher Magazin von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff mit einem Essay von Gottfried Boehm ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe der "Marbacher Magazine" abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf

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Römische Geschichte« den Literaturnobelpreis –, wird 1948 das erste<br />

Mal vollständig veröffentlicht: in der von Dolf Sternberger, Alfred Weber,<br />

Karl Jaspers, Werner Krauss und Lambert Schneider in Heidelberg<br />

herausgegebenen Zeitschrift Die Wandlung. Sternberger leitet es der<br />

Jahre nach dem Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs als Grundschrift <strong>des</strong><br />

20. Jahrhunderts ein: »Ich wollte, wir brächten heute zuwege, die alte<br />

Haut <strong>des</strong> bürgerlichen Charakters abzustreifen, um Bürger zu werden. Ich<br />

will kein Charakter sein, ich wünschte, ein Bürger zu sein. Nichts weiter.<br />

Aber auch nichts weniger als das.«<br />

»… in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten, was in<br />

mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte, ein<br />

Bürger zu sein.« In genau dieser Form, abgetrennt von seiner depressiven,<br />

ein Lebensscheitern behauptenden Textumgebung, erreichte mich zum<br />

ersten Mal Theodor Mommsens Testamentsklausel. Es war 1977, ich<br />

war Schüler auf einem altsprachlichen Gymnasium und las die von Karl<br />

Christ betreute dtv-Ausgabe von Mommsens Römischer Geschichte; dort<br />

fand ich im Nachwort den abgekürzten Satz. Zwar kam ich unzweifelbar<br />

aus bürgerlichen Verhältnissen – das Mobiliar unserer Berliner Großmutter<br />

stammte noch von ihren Eltern, es kam direkt aus Mommsens Welt –, und<br />

auch meine schulische Umgebung sprach dafür, ebenso wie der Umstand,<br />

dass ich Mommsens klassisches Werk durchlas. Aber niemand, schon<br />

gar kein Lehrer, sagte uns damals, im Jahr <strong>des</strong> ›Deutschen Herbsts‹,<br />

dass es etwas Wünschenswertes, etwas Großes sein könne, ein Bürger zu<br />

sein. Doch genauso wirkte dieser Satz: als Optativ, als stolzes Postulat,<br />

nicht als verzweifeltes Präteritum. <strong>Der</strong> Satz war hundertfach beglaubigt<br />

durch den Stil der tausend Seiten vor Christs Nachwort: Eine mitreißende<br />

Diktion von republikanischem Römergeist, gebrochen durchs nationale<br />

Prisma <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts. Ich glaubte dem Satz aufs Wort und habe<br />

ihn nicht mehr vergessen. Später habe ich noch sehr viel antibürgerliche<br />

Literatur gelesen, wie es in meiner Generation unvermeidlich war,<br />

aber überzeugen konnte sie mich nicht. Mommsen hatte mich geimpft.<br />

M ARKT UND POLITIK

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