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Kunstbulletin März 2021

Unsere April Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Eva & Franco Mattes, Dias & Riedweg, Markus Weggenmann, David Knuckey, uvm.

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Soziologen verbinden Tätowierungen mit dem Untergrund, der<br />

Peripherie, mit etwas Verbotenem, aber auch dem Unterbewussten.<br />

Einige Ausdrucksformen des Untergrunds wurden wahrscheinlich<br />

zuerst vom Dadaismus in Poesie und Kunst sichtbar<br />

gemacht. Dennoch fehlt die Anerkennung von Tattoo als Teil<br />

unserer zeitgenössischen Kultur. Ein Plädoyer! Róza El-Hassan<br />

Warum benötigt die zeitgenössische Kunst die Tätowierung? Füllt diese eine Lücke?<br />

Ich habe noch keine genauen Antworten.Kultur muss die Realität berühren,klar. Doch<br />

warum Tattoo in High Art und Avantgarde? Vielleicht weil 3D-Plotter die Möglichkeit<br />

bieten, problemlos Kopien von Gemälden, Grafik und Texten zu erstellen? Eine Person<br />

mit Tattoo kann sicher sein, dass sie das Original eines Meisters auf der Haut trägt<br />

und es immer ein Original bleibt. Es kann nicht gestohlen oder kopiert werden.<br />

In Europa wurden Tätowierungen als Akt der Rebellion oder der Revolte angesehen.<br />

Schon Papst Hadrian hatte sie – wie auch Vertreter des Islam oder des Judentums<br />

– 787 verboten: «Sie kritzeln auf Ihren Körper? Ein Geschenk von Gott.» Dennoch<br />

lesen wir von Tätowierungen beispielsweise in den Notizen des Kapitäns James<br />

Cook. Die Seeleute brachten den Brauch aus der Neuen Welt nach Europa, beispielsweise<br />

aus der Maori-Kultur. Seeleute in Kalifornien tragen mindestens drei Tätowierungen:<br />

Eine wird gestochen, wenn sie den Hafen verlassen, eine, wenn sie im Zielhafen<br />

ankommen, und eine, wenn sie wieder in die Heimat zurückkehren. Die Kultur der<br />

Tätowierung blühte auch in den Gefängnissen in Russland oder Ungarn, obwohl sie<br />

als bourgeoise westliche Mode verboten war. Im Amazonas signalisierten Tattoos die<br />

Verbindung zu einer höheren Macht. Der Gott oder die Göttin würde diejenigen nicht<br />

sehen, die kein Zeichen auf ihrem Körper tragen, das sie vom Chaos des Dschungels<br />

trennt. Die Muster auf dem Körper signalisieren die Erscheinung oder Präsenz<br />

des Geistes und der Kultur. Ich kann mir gut vorstellen, wie das plötzliche Aufblitzen<br />

eines gut gezeichneten Tattoos auf einer Schulter im endlosen Busch wirkt…<br />

In Afrika geht es eher um die Kultur des Opfers. Dies zeigen Holzskulpturen und<br />

Porträts mit Hautritzungen sowie Fotos von Narben und verschiedenen Körpermodifikationen.<br />

Sie sprechen für sich. Es ist ein starkes Signal, wenn wir den eigenen Körper<br />

zur Skulptur machen oder die Gemeinschaft ihn verändert – oft unter Schmerzen.<br />

Zeitgenössische Künstler wie Jjjanon & Tattanna haben die Idee des Tattoos auf<br />

humorvolle Weise aufgegriffen – ähnlich wie der Pop-Autor Kurt Vonnegut in seinen<br />

Zeichnungen. Die Botschaft lautet: Hallo, ich lebe noch und das ist meine Geschichte.<br />

Nachtrag: Wenn wir alle Dinge verurteilen würden, die wir aus alten oder Stammeskulturen<br />

importiert haben, hätten wir keine Kartoffeln, keine Tomaten, keine Ostereier,<br />

keinen Karneval. Grosse Teile der ungarischen Volkslieder würden verschwinden.<br />

Wir würden uns nicht erkennen. Daher mein Plädoyer für das Tattoo.<br />

Róza El-Hassan, Künstlerin, Budapest; Auszug aus ‹Tattoo und Kunst›, 2020. rozaelhassan@gmail.com<br />

→ Ansichten: Ein Bild, ein Text – Autor/innen kommentieren eine visuelle Vorlage ihrer Wahl.<br />

FOKUS // ANSICHTEN<br />

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