Kunstbulletin März 2021
Unsere April Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Eva & Franco Mattes, Dias & Riedweg, Markus Weggenmann, David Knuckey, uvm.
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Pia Zanetti — Lassen wir uns ein?<br />
Seit den 1960er-Jahren ist Pia Zanetti als Fotojournalistin weltweit<br />
unterwegs. Für ihre Einzelausstellung in der Fotostiftung<br />
Schweiz sichtete sie Material aus ihrem Archiv, das mal farbig,<br />
mal schwarz-weiss, mal schnappschussartig, mal minutiös das<br />
Zeitgeschehen der letzten Jahre festhält.<br />
Winterthur — Ein Junge schaut uns auf einer belebten Strasse entgegen. Er wirkt<br />
nachdenklich, seine Lippen etwas zusammengekniffen, fast würde er zwischen den<br />
vorbeigehenden Passantinnen und Passanten untergehen. Ein flüchtiger Blick, der<br />
beinahe unbemerkt blieb, den Pia Zanetti doch einzufangen vermochte. Nun zieht er<br />
uns in seinen Bann, katapultiert uns in das Italien der Siebzigerjahre, als die Bevölkerung<br />
von Pozzuoli einen Vulkanausbruch befürchtete. Wie muss es wohl gewesen<br />
sein? Seit über sechzig Jahren hält Pia Zanetti (*1943, Basel) gesellschaftliche Stimmungen<br />
fest: Demonstrationen in London gegen den Vietnamkrieg, die Apartheid in<br />
Johannesburg. Wie muss es wohl gewesen sein? Diese Frage stellt sich auch im Hinblick<br />
auf ihren Werdegang. Zanetti war gerade mal zwanzig Jahre alt, als sie sich als<br />
Fotojournalistin selbständig machte. Sie musste sich in einer männlich dominierten<br />
Szene behaupten, in der sie als Frau oft als zu emotional oder fragil galt, um den Beruf<br />
auszuüben. Doch sie setzte sich durch, fotografierte für ‹Du›, ‹Das Magazin› oder<br />
die Wochenendbeilage der NZZ.<br />
Ausgewählte Fotografien aus ihrem Archiv sind nun in der Fotostiftung zu sehen.<br />
Sie sind Ausdruck eines jeweiligen Zeitgeistes und nicht zuletzt der Veränderungen,<br />
die den Fotojournalismus prägten. «Damals waren Sparmassnahmen noch weit entfernt.<br />
Das ist heute unvorstellbar», sagt Pia Zanetti, während sie etwas nachdenklich<br />
– soweit sich das unter der Maske beurteilen lässt –, ihren Blick durch die Ausstellung<br />
schweifen lässt. In der Ausstellung wird aber auch deutlich, dass ihre Arbeit<br />
stets ein Wechselspiel aus Nähe und Distanz ist. Wie nahe geht man an ein Geschehen<br />
heran? Inwieweit macht man die eigene Position als Fotografin sichtbar? Solches<br />
Abwägen ist etwa in der Serie ‹Fremde Heimat› implizit enthalten, für die Zanetti mit<br />
ihrer Adoptivtochter nach Vietnam reiste. Wie weit lässt man sich emotional ein? Eine<br />
Frage, die es nicht nur für die Fotografin, sondern auch für uns als Betrachterinnen<br />
und Betrachter zu beantworten gilt. Wie weit lassen wir uns ein, wenn wir etwa die<br />
Aufnahmen aus einer Psychiatrie in Managua betrachten, welche die Traumata der<br />
Nicaraguanischen Revolution thematisieren? «Was passiert zwischen der abgebildeten<br />
Person und mir? Bin ich bereit, auch von mir etwas zu zeigen, zu geben?», fragt Pia<br />
Zanetti. «Entsteht eine Auseinandersetzung oder möchte man nur von den Menschen<br />
profitieren, die ich als Fotografin einfange, als Betrachterin sehe?» Giulia Bernardi<br />
→ ‹Pia Zanetti – Fotografin›, Fotostiftung Schweiz, bis 24.5. ↗ www.fotostiftung.ch<br />
74 <strong>Kunstbulletin</strong> 3/<strong>2021</strong>