Blogtexte2022_1-Halbjahr
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Zigaretten und manche Freiheiten, die den
furchtbaren Krieg schon bald ein wenig vergessen
ließen, antworteten die Deutschen
nicht selten: „Der Nationalsozialismus wäre
an sich eine gute Sache gewesen, nur eben
schlecht durchgeführt.“ Dieses, wie ich finde
schockierende Zitat, habe ich vor kurzem in
einem Bericht über die Zeit vor dem Mauerbau
in Berlin aufgeschnappt. Wir sollten
vorsichtig sein mit unserer abwertenden
Bewertung heute, wären wir doch dieselben
vielleicht, die so dächten, hätten wir damals
gelebt.
Möglicherweise hat der russische Führer
noch Erfolg? Friedensverhandlungen sind
gerade wieder im Gespräch. Sein „Endsieg“
bestünde drin, die ukrainische Führung
mit einigen, wenigen bösen Angriffen nun
schnell einzuschüchtern und emotional zu
brechen, auf Linie zu bringen: „Vergesst das
mit der Nato. Die Amerikaner gängeln euch
nur“, mag der gute Wladimir beschwören.
Wenn das möglich würde, könnte dieses
Land sich wie Belarus und Kasachstan auf
die gewünschte Weise anpassen? Es fällt
mehr als schwer, daran zu glauben, dass es
noch so in etwa geschieht. War die militärische
Idee anfangs, ohne den jetzt begonnenen
Angriff, allein aufgrund der bedrohlichen
Situation des vorherigen Manövers,
eine erzwungene Aufgabe der Scharmützel
im Osten zu erreichen? Da hätte eine
Befriedung des Gebietes unter Anpassung
an Russland nicht wenigen imponiert. Es
hätte nicht unerhebliche Eigenbewegungen
in Richtung freier Demokratie erstickt und
in dieser Hinsicht schlecht Informierte (wie
zum Beispiel mich) weiter an die russische
Version der lupenreinen, gelenkten
Demokratie glauben lassen. Man muss sich
schämen, es zuzugeben? Ich wäre vielleicht
noch einmal darauf hereingefallen, dass mir
der starke Mann im Kreml irgendwie gefällt.
Das ist vorbei. Es wird mir spät klar, dass
man nicht sagen kann, wir greifen nicht an,
es tut und sagt: Selenskyj sei ein Nazi. Der
wirkt gar nicht wie Adolf. Was für eine Art
Faschismus meint der russische Präsident?
Der blindeste Kunstmaler aus Schenefeld
muss im Komiker Selenskyj den mutigsten
aller kreativen Kollegen sehen, und ein
Zerrbild wurde aus dem, den ich irgendwie
mochte – Putin.
Angenommen, krankes Verhalten ist so
selten nicht? Es spricht viel dafür, und die
Schuld liegt sicher nicht nur in der Vorbelastung
missratener Gene – sondern unsere
Umgebung zeigt sich als unfreundliche
Sozialität, die das nicht wahrhaben möchte –
dann können auch Führungskräfte psychisch
krank werden? Möglich ist eine Entwicklung
zum Schlechten. Kein Idiot bekommt eine
führende Position. Heute wird gern vom
Burnout geredet. Aber das ist nur ein neues
Wort, das den Zusammenbruch einer Karriere
kennzeichnet, die es den Betroffenen
ermöglicht, anschließend weiterzumachen.
Würde man diese Erkrankung stigmatisierend
bewerten, bedeutete sie das Aus für zu
viele, die vor dem Kollaps gute Arbeit geleistet
haben. Das macht deutlich, das wir auf
dem guten Weg sind, psychische Krankheiten
als integriert anzunehmen. Da können
wir noch besser werden. Schwieriger als der
weinende Chef, unvergleichlich gefährlich
geradezu, ist ein Amokläufer, und denkbar ist
auch eine psychisch kranke Führungskraft,
die nicht weint, sondern immer bösartiger
wird und schließlich irrational handelt.
Es könnte krankhafte Entwicklungen geben,
die erst allmählich zu einem handfesten
Problem werden. Der erhängte Epstein mag
ein Beispiel dafür sein, wie abartiges und
krankes, gegen andere gerichtetes Verhalten
den Verbrecher nicht hinderten, rational
sein Vermögen zu erwirtschaften. Dieser
Mann wäre als Sexualstraftäter schuldig
gesprochen worden. Entsprechend auffällige
Gymnasiallehrer oder Betreuer in einer Kita,
die sich an die ihnen anvertrauten Kinder
heranmachen, therapieren wir als krank. Das
hängt sicher mit den Millionen zusammen,
die man nur mit entsprechendem Verstand
zusammenbekommt. Wer „nur“ Pfleger
irgendwo ist, muss krank sein, wenn dieser
Kinder missbraucht, meint die Gesellschaft.
Wladimir Putin könne nicht krank sein, ist
schließlich Präsident? Wir sollten es ins
Auge fassen als unglaubliche Gefahr.
Der von C. S. Forester erdachte Leutnant
Hornblower ist ein literarisches Vorbild, das
mir in den Sinn kommt, wenn es darum geht,
im Krieg selbstständig zu handeln. Wer die
Reise mit dem verrückten Kapitän Sawyer
erinnert, kann wie jeder andere Leser
des Romans ins Grübeln kommen, wie das
damals gewesen sein mag, als der Kommandant
in den Niedergang stürzte? Dieser
Despot war immerhin der Kapitän eines
beachtlichen Zweideckers und bestimmte
über das Leben zahlreicher Männer an Bord.
Die können ja nicht weg auf See.
Auch die Meuterei auf der Bounty liefert
eine wahre Geschichte, die Ähnliches
erzählt. Die unglaubliche Fahrt in einem
kleinen offenen Boot, die der abgesetzte
Bligh erfolgreich meisterte, um sich und
einige Offiziere zu retten, nachdem Fletcher
Christian die Bounty übernahm, hat der
abgesetzte Kapitän in Schriftform festgehalten.
Das habe ich gelesen. Bligh war ein hervorragender
Nautiker und hat es mit großer
Disziplin vermocht, seinen winzigen Kutter
weit über See zu navigieren, schlussendlich
heil anzukommen. Eine seemännische
Meisterleistung. Nichtsdestotrotz meuterte
seine Mannschaft auf der legendären
Bounty. Das kann nicht nur an den Verlockungen
der Südsee gelegen haben? Bligh
muss fies gewesen sein und hat in Christian
seinen mutigen Widerpart gefunden. War der
Kapitän aber krank? So genau weiß man das
ja nicht. Der fiktive Kapitän Sawyer (auf der
Renown) ist krank. Wir dürfen mutmaßen,
dass der genauso ängstliche wie bekanntermaßen
mutige, junge Leutnant Hornblower
das Problem in seinem Sinne angepackt hat.
:)
Feb 27, 2022 - Hornblower 28 [Seite 27 bis 29 ]