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Wer ist gesund?
Mai 11, 2022
Die Geschichte der Psychiatrie findet sich
wie vieles als Beitrag auf Wikipedia. Psychische
Krankheiten werden als eigenständiges
Problem erkannt und das ist so neu nicht.
Eine umfangreiche Behandlungsstruktur mit
entsprechenden Ärzten, Medikamenten und
Einrichtungen, die zunächst den Gefängnissen
ähnliche Versuchs- und Verwahranstalten
sind, hat sich mit der weltweiten
Bevölkerungszunahme entwickelt. Man
begriff, dass im Gehirn der Auffälligen der
Unterschied zur gesunden Bevölkerung
wäre, denn ein Mensch steuert seine Wege
offenbar nicht von den Füßen her, sondern
vom Kopf aus. Also nimmt diese Fakultät an,
dass es eine normale und auf der anderen
Seite die kranke Funktion gäbe, welche vom
Gehirn gelenkt, dort behandelt werden müsse.
So weit so richtig, sieht sich der Behandler
einer Vielzahl von Problemen gegenüber,
die weiter wenig befriedigende Lösungen
gefunden haben für eine Not, mit der die
Menschheit um so mehr zu tun bekommt,
je voller der Planet ist. Warum ist das so?
Die Antwort kann nur darin liegen, dass der
Angst als einer notwendigen Eigenschaft
des Menschen die entscheidende Bedeutung
zukommt, will man sich an einer Erklärung
der verschiedenen psychischen Erkrankungen
versuchen. Die Angst des nur vereinzelt
aufkommenden Lebewesen richtet sich an
den natürlichen Gefahren der Umgebung
aus. Die Angst unserer Moderne ist sozial. Es
gibt gute Gründe, die anderen zu fürchten,
wenn sie überall sind.
Trotzdem kommt die normale Breite der
Bevölkerung klar mit den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen. Das sind wohl
diejenigen, die von Beginn ihres Lebens
an den Lernprozess der Anpassung gut
hinbekommen haben. Sie hatten entweder
das Glück eines stabilen Elternhauses oder
die individuelle Einstellung zum instabilen
Rahmen, die ihnen geholfen hat. Wenn eine
liebevolle Familie nicht der Ursprung ihrer
Entwicklung gewesen ist, gelang es diesen
Kindern früher als den behüteten, einen
ganz eigenen Weg einzuschlagen, trotz widriger
Bedingungen, emotionale Freiräume zu
finden für ihre Bedürfnisse unter Umständen,
die andere zerbrochen hätten. Da es eine
Vielzahl von Anpassungen gibt, sollten wir
zunächst anerkennen, dass die Normalität so
individuell ist, wie es Menschen gibt.
Würde die Wissenschaft der Psychiatrie auf
einer belastbaren Theorie menschlicher Gesundheit
versus Krankheit agieren, könnten
diese Ärzte Erfolge messen und schlecht
helfende Kollegen müssten sich dem Kodex
anpassen, der in der Qualität der Behandlung
definiert wäre. Nach wie vor verzetteln
sich Ärzte in Diagnosen und der Schwierigkeit,
Unselbständige an sich zu binden und
damit Ewigkeiten zu schaffen, die gerade
nicht das Ziel sein dürften, wenn wir Gesunde
und Selbstständige möchten. Nehmen
wir also an, dass die Erziehung der Kranken
nicht gelang, dürfte der Therapeut nicht zum
lebenslangen Begleiter werden und schlechte
Eltern durch eine Bindung an eine Art
Lebenskrücke, den Arzt und seine Medizin,
ersetzen. In vielen Fällen ist das Realität.
Die Aufgabe einer kritischen Einstellung
zur modernen Behandlung sehe ich darin,
den Anteil der ein Leben lang geführten
Patienten kleiner zu machen. Wir könnten
bei besseren Methoden mehr Menschen auf
einen guten Weg bringen, den gestörten Prozess
ihrer Entwicklung zu einem Abschluss
bringen, dass diese allein zurechtkommen
und für eine individuelle Lebensgestaltung
Wege finden, die weniger normal, sondern
als gesund zu bezeichnen wären.
Das hieße zunächst mit dem Begriff der
Normalität anzufangen. Wir benötigen ein
Ziel und kein Wort, wo wir hin möchten. Der
kranke Kopf ist ein Fakt. Wäre das nicht so,
könnte man keine Psychose medikamentös
beenden. Das können die Ärzte aber sehr
wohl in vielen Fällen. Genauso die Depression.
Moderne Antidepressiva sind nachweislich
wirksam. Allein durch gutes Zureden
beendet man schwere Verläufe kaum.
Warum wird dennoch Verhaltenstherapie
angeboten? Wir erkennen, dass Menschen
nicht nur, wenn sie sich in einem extremen
Lebensabschnitt befinden, Hilfe nötig
haben, sondern auch dann, wenn sie latent
gefährdet auf dem Grat wandeln, der zwischen
dem stabilen und weniger gesunden
Dasein verläuft. Wir möchten Labile stärker
machen. Deswegen reden wir mit ihnen
und hören zu, als Helfende, besonders wenn
wir nicht aus Liebe oder Freundschaft dazu
angetreten sind, sondern beruflich „vom
Fach“ sind. Dann müssten wir uns aber auch
untereinander daran messen können, wie
die Qualität dieser Unterstützung definiert
ist. Das bedeutet, der Krankheit als Fakt, die
Gesundheit als ebensolchen gegenüberzustellen.
Da hapert es erkennbar.
Daran ist nicht zuletzt die Gesellschaft
schuld. Wir können nicht einen Kranken
gesund machen, der selbst kein Bild davon
hat, was das sei. Da fragen Sie mal in
einer Einkaufsstraße die Leute, was einen
Geisteskranken ausmacht, und was dagegen
die anderen kennzeichnet, die nicht krank
im Kopf sind? Normalgesunde wissen in
der Regel nicht, weshalb sie nicht psychisch
krank sind. Einen Bekloppten meinen alle
erkennen zu können. Würde das stimmen,
hätten wir keine Amokläufer, denn man
würde es ja vorher merken, was jemand
ausbrütet. Die Normalität darf deswegen
nicht unser Ziel sein, weil sie einen viel
zu ungenauen Rahmen gegen die kranken
Formen menschlichen Seins aufbaut. Das
ist eine Mauer aus anderen, die nur zufällig
fest steht. Nicht wenige Zeitgenossen fallen
überraschend raus und werden psychisch
krank, obwohl ihre Umgebung sie bislang
als verlässliche Bausteine unserer normalen
Umgebung eingeschätzt hatte.
Könnte die Psychiatrie anstelle dem nicht
krank sein die gesunde Funktion des
Menschen nicht nur erkennen, sondern
herbeiführen, wäre es gut. Tatsächlich ist der
Facharzt dazu bereits ganz gut in der Lage.
In vielen Fällen gelingt es, Krisen abzukürzen.
Menschen können reintegriert in den
Alltag zurück. Was nicht gut funktioniert, ist
die Therapie, die doch Rückfälle verhindern
soll und eine gute Entwicklung ermöglichen.
Wenn wir auch hier wohlwollend bewerten,
könnten wir noch bemerken, dass es sehr
wohl gute und erfolgreiche Behandlungen
auch dort gibt, wo bislang schwere
Lebenskrisen vorherrschten, mit Hilfe von
Kliniken, Ärzten und Tageskliniken gute
Ergebnisse erzielt wurden. Der Zufall spielt
aber weiter in großer Breite eine Rolle, ob
jemand gesund wird. Wir helfen nur denen,
die am richtigen Ort landen und die gut auf
eine Behandlung ansprechen. Wenn eine
theoretische Qualität, was eigentlich die
Gesundheit uns Menschen bedeutet, klarer
formuliert würde, wäre allen geholfen.
:)
Mai 11, 2022 - Wer ist gesund? 79 [Seite 79 bis 79 ]