Blogtexte2022_1-Halbjahr
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Aleksandra* kennen wir
nicht
20 Mrz, 2022
Den Kommunismus
hätten wir besiegt,
hieß es Anfang der
Neunzigerjahre. Ich war
Student, als die Mauer
fiel. Die Bundeswehr
verlor an gesellschaftlicher
Bedeutung, die
Aufregung um die
Wiederbewaffnung: Geschichte. Wir wären
in Europa „von Freunden umzingelt“, meinte
mein Professor Waldschuß* (zum Schutz
der Persönlichkeit habe ich alle Namen in
diesem Text geändert).
Despotin, hiermit ist ein aktueller Präsident
einer großen Nation in Asien gemeint, dessen
Namen ich konsequenterweise auch mit
dem Schleier dieser Kunstfertigkeit bedecke,
um ihn vor meiner Leserschaft zu schützen –
er macht eine schwere Zeit durch und hat an
Beliebtheit im Westen eingebüßt – ist nicht
unser Freund. Insofern hat sich seit dem
Mauerfall erneut etwas geändert.
Deutschrussische Freundschaften sind
gerade schwierig.
Manches ändert sich, eine Ewigkeit nicht.
Gleichbleibend sind meine Begegnungen
mit dieser traurigen Person hier vor Ort,
das muss man sagen. Ich bin auch traurig,
das ist es wohl. Bockmist wie den unseren
kann niemand verkraften, geschweige denn
verstehen, denke ich ein ums andere Mal.
Wir gehen so wortlos wie möglich aneinander
vorbei. Ein unscheinbarer Mann. Er wirkt
ganz anders als der böse Präsident. Wir treffen
uns regelmäßig „achter de Schnellstrot“
oder beim Bus. Er schlurft vorbei. Ein Gangbild,
so persönlich, das könnte ich kopieren.
Der Russe zieht ein Bein nach und macht
eine Hüftbewegung, um es hinzubekommen.
Er ist klein, geht unsagbar gebeugt. Einen
Hackenporsche verwendet der Alte, das
Fahrrad mag kaputt sein, keine Ahnung. Er
trägt eine Mütze im Winter und einen Mantel
wie Columbo. Das Gesicht entspricht dem
von Harald Lesch. Der Erkläronkel aus dem
Fernsehen. Die Größe stimmt auch. Der Physiker
müsste aber reichlich zusammensacken
in der oberen Wirbelsäule, um als lebhafter
Erklärbär stattdessen einen russischen Papa
abzugeben. Hier im Dorf wird nichts erklärt.
Wir schweigen, verhalten uns freundlich. Ein
kurzer Blick. Wir reden nicht, weil unfassbar
ist was geschah. Das bleibt gleich.
Es gibt Kriege, und sie sind furchtbar. Wir
sehen in Farbe, wie die Ukraine zerbombt
wird. Mit Farbe kämpft auch die Kunst um
Anerkennung. Die kleinen Auseinandersetzungen
unter Nachbarn schmerzen wie große.
Unsere Geschichte: Wer Schuld ist, bleibt
Ansichtssache. Meine Perspektive ist, der
Russe war diesmal ich und habe alles kaputt
gemacht. Vertauschte Rollen vielleicht. Wir
reden nicht, und insofern bleibt Ansichtssache
was wirklich geschah.
# Dorfgeschichten
Das Tageblatt hat
sich verändert.
Es berichtet nur
noch sparsam über
dieses Städtchen,
dessen Namen es
im Titel trägt. Es
besteht weitestgehend
aus dem
allgemeinen der
Kreisstadt, dem
man eine Seite zugeschlagen hat, wo sich
wenige Spalten mit Bezug zu Dorf und
Siedlung finden. Die Wochenendausgabe
bringt Neuigkeiten. Cord Hanschrei, der ehrenamtlichste
von allen, bekommt das Wort:
Fünfzig Jahre Stadtrechte! Ein Urgestein der
bekannten Partei, die auch in der Bundespolitik
mitmischt, um nicht zu sagen einiges
anrührt, Teil der Pampelkoalition ist. Diesen
Begriff ändere ich vorsichtshalber ebenfalls.
Man muss aufpassen, was man sagt in Sch …*.
Das weiß auch der Wichtigste. Hanschrei
hält schon mal die Klappe. Eigentlich ist er
ein Grüßonkel. Alle kennen diese Stimme:
„Schönen guten Tag!“, wenn man ihm begegnet.
Zwei Herzen schlagen in seiner Brust.
Das eine ganz weit links und das andere für
seinen Verein. Wenn der Gewichtigste auf
dem Tiefeinsteiger anrollt, denkt man kaum
an Sport? Dabei ist nicht das Fahrrad sein
Steckenpferd, sondern der Fußball im Verein.
Cord ist täglich im Wald unterwegs, die
Pfunde niederzukämpfen.
Gerade großes Thema, der Sportverein
bekommt seine Halle nicht. Knapp wurde
unsere Bürgermeisterin
zitiert,
die sich schlussendlich
auf die
Seite der Anwohner
geschlagen
hat. Davon gibt es
reichlich, denen
das Sportzentrum
zu wuchtig ist, der
Verkehr dorthin zu
laut, das Flutlicht
drumherum zu
hell und überhaupt.
Sport
findet inzwischen
zuhause vor der
Konsole statt. Bei
einer Mehrheitsentscheidung,
wie
viele Wählerstimmen
es womöglich
kostete, hat Christa
Kesselhoch, unsere
Verwaltungschefin,
die Reißleine gezogen
und die Halle vom Reißbrett gerissen.
Der örtliche Sportverein ist zerknirscht,
aber was Cord Hanschrei, der ehemaligste
Obersportler (und früherer Maurergeselle
der Arbeiterklasse) dazu meint, stand nicht
im Käseblatt. Oder habe ich es überlesen?
Dabei wäre der volksnahe prädestiniert
zum Stuhlgang dazwischen (wie der große
Altkanzler derselben, größten Arbeiterpartei
bei Despotin) für eine Vermittlung in
Sachen Sport und Politik. Darüber spricht
der Dorferklärer möglicherweise nur auf der
Straße mit jedermann (und Frau)?
In der Politik wird heute durchgegendert.
Sonst ist man weg vom Fenster. Desgleichen
in der Kunstmalerei. Aufpassen, was
du schreibst oder hinmalst! Christa, die
Politchefin, war unvorsichtig, hat gelernt;
nun sind bessere Märchen willkommen. Cord
genießt Bestandschutz. Der große alte Mann
der Espede oder so, jedenfalls hier bei uns.
Ansonsten zurückgezogen auf Döntjes, vermutlich
in Konkurrenz mit Geschichtenonkel
Fritz Blauberg „und seinen alten Hütten“.
Da zieht man als Grafiker den Hut, zollt
dem Fotografen Respekt in Anbetracht der
Schönheit, die Blauberg mancher Immobilie
entlockt. Bewegend mobil wie die Geschichten
dahinter, sauber. (Mari-Anne macht die
Drecksarbeit).
Cord Hanschrei kommt groß raus!
Fünfzig Jahre Stadt, toll. Die ganze halbe
Seite im Tageblatt vorn, und sein Foto füllt
allein zwei Drittel davon, breit wie Obelix.
(Um den es still geworden ist). Der französische
ist nicht gemeint. Wir haben einen
eigenen, den ich allerdings lieber friedlich
im neuen Friedwald sähe, den Christa
erwägt zu pflanzen. Das kam vor Kurzem.
Der Boden unserer schönen Felder ist nur
für Beete gut und nicht für Tote. Ein Wald
müsste helfen, findet die Bürgermeisterin im
bereits erwähnten Blatt. Da fällt mir was ein:
Ich könnte nach dem kleinen weißen Hund
von Frau Lappenmesser fragen. Schmerzlich
vermisst. Sie ist jetzt im Heim. Dazu musste
sie ihren Liebling abgeben. Ich würde ihn in
Idefix umtaufen, und wir könnten Obelix an
den Baum pinkeln, gemeinsam, versteht sich,
wenn er drunter vergraben liegt und hoffentlich
bald. Das sind so Fantasien. Meine
Texte sind unmöglich, ich weiß. Das hier zum
Beispiel ist nicht gerade, was
Hanschrei erwartet? Cord
möchte schöne Jubiläumsgeschichten
sammeln von den
Sch*… und -rinnen.
Das Tageblatt bringt seinen
Aufruf mitzumachen.
Das wären vermutlich
Geschichten in der Art wie
Ernst Meisengeschnatter,
Name geändert, welche
wüsste: „In diesem Haus fünf
wohnt (…), die ist über hundert!
Stell dir vor. Sie war die
erste, die einen Ausländer
geheiratet hat.“ Dann macht
der ehemalige Vorsitzende
des Seniorenbeirates eine
bedeutungsschwere Pause.
„Der kam aus Bayern.“
Ha ha, und so werden die
Texte sein, die Fritz Blauberg,
Cord Hanschrei und andere mögen, für die
Christa Kesselhoch einen Preis vergibt. Sch*-
Geschichten! Ich bin Quiddje, zugezogen und
nicht beliebt. Ein Kuckucksei mit unerwartet
bösem Ruf für einige. Ich war „unser Künstler“,
das ist vorbei. Diese Geschichten, meine
Worte passen nicht dazu, bin ich mir sicher.
Hässliche Menschen treffen wir überall. Darüber
spricht man nur hinter vorgehaltener
Hand. Das schreib ich doch nicht.
Klappe.
:(
Mrz 20, 2022 - Aleksandra* kennen wir nicht 49 [Seite 49 bis 49 ]