Blogtexte2022_1-Halbjahr
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Was hast du schon
davon?
Apr 16, 2022
Im Keller war ein
Buch mit jüdischen
Witzen. Das müsste
von meinem Opa
gewesen sein. Bei der
Entrümpelung kam es
vermutlich mit anderen
Sachen in den Müll und ist inzwischen
verloren gegangen. Ich erinnere dies: Ein
Sohn klagt seinem Vater, nur mit Fräulein S.
könne er glücklich werden. Der aber antwortet:
„Glück, was hast du schon davon?“ Vielleicht
irre ich mich, und es war keine Zote
aus Großvaters Sammlung. Gut möglich, dass
dieser Witz in einem Buch von Watzlawick
zitiert wird und ich die Geschichte daher
kenne. Manches erinnert man ungefähr.
Genauso eine Anekdote von einem Lehrer,
der Schülern zu Aufgabe macht, Texte auf
das Wesentliche zusammenzukürzen. Da
kann es sein, dass ich das bei Böll gelesen
habe oder wiederum mein Opa es selbst
erlebte. Dann wäre es eine wahre Geschichte
und steht nicht irgendwo im Roman. Der
Lehrer gab ihnen Hitler-Reden, die mussten
sie straffen, um das Kürzen von Texten zu
lernen. Wenig blieb nach, wenn der Gröfaz
schrie. Inhaltlich dürr ist möglicherweise
auch „Mein Kampf“; deswegen fand ich
unten gleich zwei Exemplare? Meine Eltern
hatten ausgemusterte Bücher in verschiedenen
Regalen untergebracht. Neben den
beiden Hitlerbüchern stand die dicke Bibel
von Oma Lina (in altdeutscher Schrift). Die
wirkte womöglich ausgleichend auf den
Nazischeiß. Alles wurde weggeworfen. Unser
Haus ist verkauft. Keine Ahnung, wie diese
Räume heute genutzt werden.
Der Witz macht Sinn. Nicht, weil hier
angedeutet würde, den Juden ginge es ums
Geld. Es geht auch nichtjüdischen Eltern
darum, Einfluss auszuüben, wenn die Kinder
erwachsen werden. Wir dürften selbstkritisch
bemerken, dass die Wahl, jemanden zu lieben,
nur scheinbar eine freie Entscheidung
ist. Dazu kommt, dass erst etwas daraus wird,
wenn beide einander lieben und das Ganze
kein Luftschloss ist; die nicht erwiderte
Anbetung. Manche haben es leicht. Einige
Menschen werden stärker begehrt als andere
und können wählen. Viele wählen nicht.
Sie nehmen, was übrig bleibt und reden die
Verbindung schön. Nicht wenige Menschen
bleiben schon deswegen zusammen, weil
ihnen klar ist, nach einer Trennung allein
bleiben zu müssen. Sie haben keinerlei Vertrauen
in ihre Ausstrahlung, glauben nicht
daran, sich neu verlieben zu können oder
noch einmal ein Gegenüber zu treffen, das
sie attraktiv findet und umgekehrt die glückliche
gemeinsame Zukunft bedeuten könnte.
Diese Menschen haben wenig Auswahl, ihr
Glück zu gestalten und stehen sich womöglich
selbst im Weg, ohne davon zu wissen.
Anderen die Attraktivität zu neiden oder der
Gedanke, jetzt sei es zu
spät für einen Neuanfang,
könnte verbreitetes
Grübeln sein.
Das Verlieben beginnt
zur Schulzeit. Im Alter
der Pubertät denkt man
weniger in Ewigkeiten.
Wenn sich Dreißigjährige
verlieben, schon. Eine
Ewigkeit heißt die Dauer
des Zusammenseins mit
Hochzeit, Kind und Haus
zu füllen und zu wissen,
dass es Großeltern geben
wird, schließlich deren
Ableben geschieht und
wir selbst alte Leute werden.
Glücklich zusammen
bis zum Tod irgendwann.
Und die ganze Zeit passieren diese Dinge
wie Familie, Karriere, das Zusammenhalten
in guten und schlechten Zeiten. Das ist ein
typischer Wunsch des zivilisierten Zeitgenossen
und seiner Liebsten, die symmetrisch
empfinden möge.
Die Menschen lassen sich nicht beirren,
an diesem Traum festzuhalten, obwohl
derartige Dinge nur selten wahr werden.
Viele gehen die Hochzeit im mittleren Alter
beherzt mit einer großen Feier an. Recht
junge Leute heiraten nicht so oft. Wir probieren
das Leben erst einmal aus. Eine gute
Sache, ganz bestimmt ein gesellschaftlicher
Fortschritt. Grundsätzliche Probleme sind
aber geblieben. Ich meine die Fehleinschätzung,
worauf wir uns einlassen – nicht nur
die Schwierigkeit, eine kleine Ewigkeit wie
im Märchen hinzubekommen – sondern den
falschen Partner zu lieben. Nach einiger Zeit
werden ziemliche Macken deutlich, die so
nicht absehbar gewesen sind. Das wurmt
auch diejenigen, die oft genug verschmäht
wurden, wenn diese Mädels, die sie damals
abgewiesen haben, einen Idioten heiraten.
Sieht man doch gleich. Liebe macht blind, na
klar. Aber warum wurde ich nicht gesehen
als der entwicklungsfähige, kreative
Supermann, der ich heute bin? Ich schließe
mich da mit ein: Klageruf eines verschmähten
Künstlers. Das meine ich
so ernst nicht und habe eine
Antwort darauf. Es hat lang
gedauert einzusehen, dass ich
mich selbst, wäre ich eines
dieser Mädchen gewesen, auch
nicht genommen bzw. geliebt
hätte. Selbstreflexion bleibt ein
Lernfeld.
Es ist ganz einfach. Nur wer
sich selbst mag, strahlt auch
Attraktivität aus. Ich habe mich
tagtäglich fertig gemacht. Das
merken alle, nur man selbst
spürt es gar nicht. Daran sind
eindeutig die Eltern schuld.
Unreife und dabei leistungsorientierte
Menschen zerstören unwissentlich
ihre Kinder. Dafür, dass Eltern so dämlich
sind, können sie nichts. Ihre eigenen Eltern
oder der Zweite Weltkrieg sind der Grund.
Schuld ist eine Ahnenkette. Sich mit der
Lösung, den anderen alles in die Schuhe zu
schieben, herumzuschlagen ist gut; aber das
korrekte Ergebnis, dass es so ist, hilft wenig.
Das wird einem nicht gedankt. Ein aktuelles
Beispiel? Gerade musste „dieser Zahnarzt“
ins Gefängnis. In einer beispiellosen Attacke
hatte er die Ex und weitere Menschen getötet.
Die wären schuld an seinen Problemen,
argumentierte der Mann im Prozess. Der
Zahnarzt aus Schleswig-Holstein stellte es
jedenfalls so dar. Er war unzufrieden mit der
Ehe gewesen und fremdgegangen. Die Ehefrau
hatte es gemerkt und ihn verlassen. Da
kam es zum Gewaltexzess, denn nun war der
Gehörnte der Auffassung, einer Kränkung die
entsprechende Bestrafung folgen lassen zu
müssen. Schuld am neuen Problem wäre der
neue Lover. So ähnlich erinnere ich einen
Bericht. Ich habe das nur überflogen. Brutal
und bescheuert (der Eindruck bleibt) war
diese isolierte Borniertheit. Er geht fremd,
die Frau verlässt ihn deswegen. Und damit
ist sie selbst schuld, getötet zu werden; das
wird niemand verstehen.
Warum ging der Mann fremd? Ganz offensichtlich
wurde er nicht genügend geliebt
oder nicht auf die Weise, die er erwartet
hatte. Bis zu diesem Moment ist die Sache
noch einigermaßen normal. In vielen Ehen
gehen Partner irgendwann fremd. Natürlich
hat ein psychiatrischer Gutachter feststellen
müssen, inwieweit der Mann schuldfähig
wäre. Dabei kam meines Wissens heraus,
dass die Tat als überlegt eingestuft wurde.
Er war mit Waffen ausgerüstet losgefahren.
Seine Behauptung eines spontanen
Geschehens vor Ort konnte der Täter nicht
glaubwürdig darstellen, und insgesamt ging
das Gericht von einer Wahnsinnstat aus,
aber nicht von einem Kranken, der im Wahn
agierte. Demzufolge verpasste man dem
Doktor Lebenslänglich.
Das ist unter den Umständen die unumgängliche
Antwort eines Staates, dessen
Verantwortung bei einer so eindeutigen
Gewalttat darin liegt, die Gesetze anzuwenden.
Besser schafft es keine Gesellschaft der
Welt, als mit Gefängnis oder sogar dem Tod
zu strafen, wenn einzelne die Regeln massiv
verletzen. Schon mit den zehn Geboten
lernen wir bis heute die Grundregeln sozialer
Gemeinschaft kennen. Ob nun Gott das
schrieb oder Moses selbst die Zeilen eigenhändig
in den Stein hämmerte, was macht
das schon? Es ist Ostern; genauso Jesus. Ob
der Allmächtige tatsächlich den Tod überwand
oder Helfer ihn
rechtzeitig abgeborgen
haben vom Kreuz,
ist für einen stabilen
Glauben vollkommen
unwichtig.
Aber es gibt Menschen,
die glauben
nicht oder können
dem Gesetz nicht folgen,
das alle kennen.
Zehn einfache Fakten
bis heute, nicht töten,
ehebrechen, klauen;
allein drei Gesetze
fallen jedem sofort
ein, und die machen
Apr 16, 2022 - Was hast du schon davon? 64 [Seite 64 bis 65 ]