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Der letzte Tag

Mrz 27, 2022

Es gibt Menschen,

die stets das

Schöne sehen. Ich

gehöre nicht dazu.

Darum male ich.

So kann ich meine

Farben für die eigene Welt bestimmen.

Das lehrt mich hinzusehen und Reizvolles

wahrzunehmen. Für gewöhnlich ärgere ich

mich über das Drumherum. Frust ist mein

Antrieb. Damit bin ich schnell unterwegs wie

viele andere auch. Mir fällt oft schwer, die

besseren Alternativen zu bemerken, kurz abzuwarten

und erst dann auszuwählen, wohin

die Reise geht. Es bleibt ein Lernfeld.

Das Leben ist so scheiße, weil es im Ganzen

alternativlos ist. Nicht leben, ist keine

Alternative. Wir haben nicht diese Wahl,

etwas anderes zu tun, als hier zu sein. Ein

Trugschluss, zu denken, wir könnten frei handeln.

Obwohl es theoretisch möglich wäre,

ganz vieles zu machen, werden wir doch nur

eine schmale Auswahl unserer Möglichkeiten

in Betracht ziehen. Suizid, sich also dafür

zu entscheiden, nicht weiter zu leben, ist

bestimmt nicht feige oder so mal eben eine

durchführbare Sache. Wir nehmen einiges

an Kummer hin und suchen oft verzweifelt

nach einem Weg aus der Einsamkeit unseres

Daseins.

Der Mensch weiß nicht, warum er lebt.

Diejenigen, die keine Automaten sein

möchten und nur gehorchen, suchen nach

dem eigenen Sinn. Wer unglücklich ist, hört

nicht einfach auf zu jammern. Davon, dass

es verboten würde, traurig zu sein, wird der

Trübsinn kaum enden. Wem es an Geschick

mangelt, den Tag mit Leben zu füllen, bleibt

nur scheinbar die Flucht. Dafür benötigt es

eine besonders verzwickte Fähigkeit. Wir

müssen bleiben, auch wenn es uns nicht

gefällt zu leben. Wer probierte zu gehen,

weiß wie viel Schwierigkeiten sich dem in

den Weg stellen, der nur noch weg möchte.

Man muss es nicht selbst versuchen: Zahlreiche

Filme zeigen Menschen, die es mit dem

Suizid nicht hinbekommen und mit ihrem

Schicksal im letzten Moment zu hadern

beginnen. Darüber nachzudenken macht

deutlich, warum es ungemütlich auf der Erde

ist. Unser Dasein ist mitnichten eine tolle

Sache, eben weil es ein Zwang ist. Es ist wie

mit einem Geschenk, das wir gezwungen

sind gut zu finden. Ein Pullover, den wir tragen

müssen, obwohl dieser kratzt: „Der steht

dir aber gut!“, sagt Tante Helga noch. Und

Mutter freut sich, wenn du ein fröhliches

Gesicht machst.

Keine Alternative zu haben, bedrückt und

macht Angst. „Davor brauchst du keine Angst

zu haben“, hört man immer wieder Eltern

sagen. Wenn zu leben ohne Alternative ist,

weil unser Organismus alles tun wird, was

an Automatismen hineinkonstruiert wurde

– allein die Atmung oder der Herzschlag

sind nicht abstellbar – bleibt nur die Erkenntnis,

dass Angst

unser Antrieb ist. Die

sollten Eltern nicht

verbieten. Der Angst

kann ich mit dreierlei

begegnen: Aushalten,

weglaufen oder die

Gefahr aggressiv

bekämpfen sind bekannte

Möglichkeiten.

Nun bedeutet unser

Alltag nicht, Soldat

zu sein. Abweisungen

unangenehmer Dinge

meistert der Mensch

sportlich. Angriff: Eine

kurze Floskel stellt einen

nervigen Bekannten

so weit zufrieden, dass wir weitergehen

können. Aushalten: Kurz die Luft anhalten

und den Frust unterdrücken, wenn man sich

übervorteilt fühlt. Flucht: Schnell vorüberhuschen

und „er hat mich nicht gesehen“

denken, das war’s. Soweit normal.

Natürlich gibt es gute Tage. Die interessieren

ja nicht. Sie kommen und gehen wieder.

Wir werden nicht umhin kommen, über die

dunklen Momente nachzusinnen. Die gewinnen

schließlich an Bedeutung; dass wir einmal

sterben müssen, macht Angst, besonders

denjenigen, die schnell sterben wollen. Das

ist paradox. Diese Schwerstbehinderten, die

ein Recht auf rechtzeitigen Suizid einklagen

möchten, zeigen es überspitzt: Das Problem

liegt scheinbar darin, die Zukunft gestalten

zu wollen, es angeblich nie zu spät sei für

irgendwas, die Zeit aber möglicherweise

knapp wird. Die Umgebung bestimmt um so

mehr über uns, je abhängiger wir von anderen

Menschen werden, im Rollstuhl sitzen

oder sonst wie gebunden sind. Deswegen

alternativlos: Der Mensch will nicht, sondern

muss leben und das bedeutet, dieses Dasein

zu gestalten. Abwarten auf das natürliche

Dahinfaulen genügt nicht, um die Sache

gut aushalten oder gar stundenweise

wenigstens genießen zu können. Nichtstun

als Beschäftigung will gelernt sein! Unser

Dasein als Möglichkeit begreifen, obwohl

es irgendwann für beinahe alles zu spät ist,

wird zu einer Herausforderung; das Alter

beginnt jetzt. Mit beinharter Logik zu leben,

wird angenehm wie den kratzenden Pullover

nur dann zu tragen, wenn Mama und Tante

Helga im Raum sind. Gott sieht alles, aber

Mutter nicht, ist die Erkenntnis zu der ein

gesundes Kind kommt.

Schlimm, wenn Mutter das verhindert (zu

denken). Da kann’s dauern, bis ein Kind frei

wird und den eigenen Weg geht. Dann ist es

für vieles zu spät. Immerhin kristallisiert sich

raus: Die anderen lügen immer. Von Scheiße

umgeben, bedeutet in Schenefeld zu sein.

In der Ukraine im Krieg ist es schlimmer.

Eine schöne Sache mit dem „edel sei der

Mensch, hilfreich und gut“ und geradezu

eine Verpflichtung, wenn klar wird, dass zu

leben ohne Alternative ist. Maulen oder dem

Selbstmord auf Raten mittels Alkohol zu frönen

ist überlegenswert. Der Nutzen will abgewogen

werden, ob diese Benebelung eine

Verbesserung ist oder wir tun sollten, was

der Doktor rät? Nun hilft es nicht, die Menschen

zu suchen, denen wir vertrauen können.

Es gibt sie nicht. Umgekehrt macht die

Sache Sinn. Selbstvertrauen zu entwickeln,

ist besser. Eine gute Einschätzung der Lage

hilft. Schwäche wird ausgenutzt. Passen wir

uns der Tante an und reden der Mama nach

dem Munde, werden wir schnell auf einen

Bekannten treffen: „Sieht scheiße aus dein

Pullover. Kratzt der gar nicht?“ Schweigen,

weglaufen oder sagen: „Das ist ein Geschenk

meiner Mutter und kratzt nicht. Ich mag die

Farben“, sind so Möglichkeiten.

Da schließt sich der Kreis. Wir sind erwachsen

geworden und lügen wie die anderen

– in dem Moment, wo unsere Wahrheit darin

besteht, die persönliche Grenze setzen zu

müssen.

Mein Onkel Hermann, der zur Tante Helga

gehörende, starb mit ungefähr neunzig. Das

hat mich genau gar nicht interessiert. Ich

bin nicht zur Beerdigung gegangen. Eine

unglaublich lange Zeit war er dement und

wusste kaum, ein Onkel zu sein. Er redete

nur noch Blödsinn. Mein dazugehörender

Vetter ist der Grund, den Rest meiner

Verwandtschaft zu meiden. Je mehr bekannt

wird, zeigt sich, fett ist nur der Nippel oben,

die Spitze. Ich will sagen, nur ein Siebtel

vom Eisberg schaut aus dem Wasser. Falschheit

gewinnt, weil man das Motiv nicht sieht.

Eis ist hartes Wasser nur für eine gewisse

Zeit.

Die sind mindestens so eklig, wie andere

hier. Familie ist in meinem Fall auszusortieren,

um zufrieden zu sein. Das Problem

ist, der Mensch kann die Gebote einhalten,

muss es aber nicht. Menschen nutzen es aus,

über andere bestimmen zu können, wenn sie

meinen es sei einfach, brächte Vorteile. Ich

habe spät gelernt zu beleidigen, bin mitnichten

ein guter Mensch. Ich lege keinen Wert

darauf zu sein, wie man soll. Unschuld war

früher. Jahrelang wusste ich nicht, dass ich

andere verletzte wie alle es tun. Für einen

genussvollen Rest an Lebenszeit, meine eigene

Gestaltung des Ganzen, reicht es nicht:

Ich fege Trümmer zusammen. Die Zeiten,

in denen wir Gewohnheiten durchbrechen

können und die Wahl einer Alternative

erkennen, machen frei. Darauf kann man

achten bis zum letzten Tag.

:)

Mrz 27, 2022 - Der letzte Tag 55 [Seite 55 bis 55 ]

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