Kunstbulletin Januar/Februar 2023
Unsere Januar/Februar Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Claudia Kübler, CCS On Tour, Hands-on, Gina Proenza, uvm.
Unsere Januar/Februar Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Claudia Kübler, CCS On Tour, Hands-on, Gina Proenza, uvm.
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Was passiert, wenn wir uns von der Idee einer linearen Zeitschreibung<br />
lösen, sie stattdessen zyklisch, elastisch oder polychron<br />
denken? Solche Fragen stellt die diesjährige Manor-<br />
Kunstpreisträgerin der Zentralschweiz. Bei einem Atelierbesuch<br />
im Vorfeld zur Ausstellung im Kunstmuseum Luzern wird klar:<br />
Claudia Kübler versteht die Zeit als Werkstoff. Gianna Rovere<br />
Von links nach rechts, über drei der vier Fenster von Claudia Küblers Atelier hängt<br />
eine lange, schmale Papierbahn: «1750000000 yrs» steht darauf in oranger, krakeliger<br />
Schrift. Diese Zahl ist eine von zweien, die Kübler, wie sie sagt, «in die Ausstellung<br />
eingeladen» hat. Die Zahl wird als grosse Neonschrift im Kunstmuseum Luzern<br />
installiert und beschreibt, wie lange die Erde noch in einer habitablen, also einer<br />
lebensfreundlichen Zone sein wird. Eine abstrakte Grösse, deren Unfassbarkeit die<br />
Künstlerin durch die zeichnerische Unleserlichkeit und die angefügte, doppeldeutige<br />
Abkürzung noch weitertreibt: «yrs» steht einerseits für «years», andererseits für<br />
«yours». Wem gehört diese uns noch verbleibende Zeit?<br />
Wo wir in der Zeit stehen<br />
Die am Greifensee aufgewachsene Claudia Kübler befasst sich in ihren Arbeiten<br />
oft mit dem geologischen Konzept von «deep time» – also mit ultralangsamen Zeitprozessen,<br />
die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegen. Von der Sichtbarmachung<br />
von solch abstrakten Zahlen und Zeitlichkeiten handelt auch der Titel ihrer<br />
Einzelausstellung, die sie als Gewinnerin des Manor Kunstpreis Zentralschweiz 2022<br />
im Kunstmuseum Luzern präsentiert: ‹Drei Sekunden vor Mitternacht› nimmt Bezug<br />
auf das Anschauungsmodell der Uhr, das herbeigezogen wird, um die Entstehung und<br />
Entwicklung des Lebens auf Erden fassbar zu machen. Erst ab 23 Uhr verdichten sich<br />
dabei die Ereignisse – bis drei Sekunden vor Mitternacht schliesslich der Mensch<br />
dazustösst. «Drei Sekunden vor Mitternacht» baut Spannung auf, klingt fast schon<br />
alarmierend. Wird es nach Mitternacht weitergehen? Kübler stellt implizit gleichzeitig<br />
die Frage in den Raum, ob wir mehr Respekt für Dinge hätten, die viel Zeit in ihrer Entstehung<br />
gebraucht haben, wenn diese Zeitspanne nicht so unbegreifbar für uns wäre.<br />
Mit dem Ursprung der Menschheit hat sich die Künstlerin erstmals in ihrer Arbeit<br />
‹hic et nunc›, 2021, auseinandergesetzt, die im Helmhaus Zürich gezeigt wurde. Die<br />
grossformatige Bodeninstallation, die begleitet wird von einer krakeligen Neonschrift,<br />
besteht aus einem fragilen, mit gemahlenem Sedimentgestein akkurat gestreuten<br />
Zeichen. Es ist das Icon von Online Maps, das uns im digitalen Zeitalter bestätigt:<br />
«You are here» – du bist da. Das verwendete, rote Gestein stammt aus der Region in<br />
Südafrika, die auch als die «Wiege der Menschheit» bezeichnet wird, da dort einige<br />
der ältesten menschlichen Fossilien gefunden wurden. Kübler hat das Rohmaterial<br />
während eines zweimonatigen Atelieraufenthalts in Johannesburg gesammelt und<br />
in langwieriger Sisyphusarbeit von Hand gemahlen. «Mir gefiel diese Vorstellung, so<br />
26 <strong>Kunstbulletin</strong> 1-2/<strong>2023</strong>