Kunstbulletin Januar/Februar 2023
Unsere Januar/Februar Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Claudia Kübler, CCS On Tour, Hands-on, Gina Proenza, uvm.
Unsere Januar/Februar Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Claudia Kübler, CCS On Tour, Hands-on, Gina Proenza, uvm.
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Doris Salcedo<br />
Basel — Yusuf Hasso. Elaha Azizi. Zahin Kurdi.<br />
Sajida Ali. Dies sind Namen von Migrant:innen<br />
und Geflüchteten, die in den letzten zwanzig<br />
Jahren bei der Überquerung des Atlantiks<br />
oder des Mittelmeers ums Leben kamen. In<br />
Salcedos (*1958, Bogotá) beklemmender Installation<br />
erscheinen diese Namen auf porösen<br />
Steinplatten, die den ganzen Boden bedecken.<br />
Wie Ebbe und Flut, wie Wellen oder Tränen<br />
drücken sie in Form von Wasser aus dem Stein<br />
hervor, um nach einiger Zeit wieder zu versickern.<br />
Andere sind mittels gefärbten Sandes<br />
in die Platten eingelassen, wie halb verwischte<br />
Spuren. Die länglichen Steinplatten erinnern an<br />
Grabsteine, auch an Särge, zusammen an ein<br />
Massengrab oder eine Gedenkstätte. Die darauf<br />
eingeschriebenen Namen – etwa lebensgross –<br />
werfen die Frage auf, wer diese Personen waren.<br />
Die individuellen Schicksale bleiben aber<br />
unerzählt. Umso deutlicher werden hingegen<br />
die Machtverhältnisse: Beim Begehen der Installation<br />
schaut man aus erhöhter Position auf<br />
die Namen herab. Um nicht auf sie zu treten,<br />
muss man grosse Schritte über die «Personen»<br />
machen, ein Akt, der zwar rücksichtsvoll<br />
gemeint ist, sich aber eher gewaltvoll anfühlt.<br />
Es ist denn auch die Stärke der Installation,<br />
dass sie es verunmöglicht, Distanz zu wahren –<br />
der eigene Körper und das eigene Tun werden<br />
in unmittelbare Beziehung zu den Individuen<br />
gesetzt, denen hier gedenkt wird. MV<br />
Doris Salcedo · Palimpsest, 2013–2017,<br />
Ansicht Fond. Beyeler. Foto: M. Niedermann<br />
→ Fondation Beyeler, bis 17.9.; grosse Soloschau<br />
von Doris Salcedo vom 21.5.–17.9.<br />
↗ www.fondationbeyeler.ch<br />
Aldo Mozzini<br />
Bellinzona — Die Tessiner Kantonshauptstadt<br />
ist von überschaubarer Grösse. Durch sie<br />
flanierend, verändert sich das urban-architektonische<br />
Szenario jeweils nach wenigen<br />
Schritten. Vom Zentrum mit seinen Palazzi über<br />
die Ausfallstrasse geht es nach dem Kreisel<br />
unter der «Murata», der Befestigungsanlage<br />
der mailändischen Grafen Sforza, hindurch in<br />
ein architektonisch durchmischtes, dezentral<br />
wirkendes Wohnquartier. Gegenüber einer<br />
romantisch anmutenden Garage liegt in einem<br />
ehemaligen Ladenlokal der ‹Spazio 5b›, der vom<br />
Wirtschaftsprofessor und Kunstsammler Luca<br />
Berla betrieben wird. Weder wirkt Luca Berla<br />
wie ein grossbürgerlicher Kunstmäzen, noch<br />
erscheint der Ausstellungsraum wie ein Monument,<br />
das sich der Sammler selbst errichtet<br />
hat. Das Projekt reiht sich eher in die Kategorie<br />
der experimentellen Kunsträume ein: Luca Berla<br />
sammelt aus Leidenschaft und zeigt im ‹Spazio<br />
5b› speziell für den Raum entwickelte Projekte<br />
von Kunstschaffenden aus seiner Sammlung.<br />
Der Fokus geht von seinen Interessen aus und<br />
strahlt vom Standort Bellinzona überregional.<br />
Im lichtdurchfluteten Ausstellungsraum führt<br />
Aldo Mozzinis Installation ‹Quasi un paesaggio›<br />
–fast eine Landschaft – die Entdeckungsreise<br />
durch urbane Situationen auf Swiss-<br />
Miniatur-Skala bruchlos weiter. Spielerisch<br />
entstehen aus Recycling-Materialien wie<br />
Holzresten oder LKW-Plachen Reiheneinfamilienhäuser<br />
oder Villen in peripheren Tälern.<br />
Wir befinden uns nun nicht mehr flanierend<br />
inmitten der städtischen Landschaft, sondern<br />
verfügen über den vollständigen Überblick. Für<br />
die Zeichnungen, Radierungen, Skulpturen und<br />
Installationen liess Mozzini sich von Italo Calvinos<br />
‹Die unsichtbaren Städte› inspirieren. Die<br />
Arbeiten entwickeln architektonische Elemente,<br />
Perspektiven, Konstruktionen weiter und<br />
vermitteln so Architektur und Urbanistik als Erinnerungs-<br />
und Stimmungsbilder, die wir immer<br />
schon in uns getragen haben. Luca Berla erklärt<br />
es so: «Die urbane Architektur ist omnipräsent,<br />
wird uns aufgezwungen, und wir sind ihr wehrlos<br />
ausgesetzt. Aldo Mozzini lädt uns ein, den<br />
64 <strong>Kunstbulletin</strong> 1-2/<strong>2023</strong>