2012-03
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Erinnerung<br />
DIE FRAU MIT DEM HUT<br />
Foto: Gottfried Klör<br />
Als ich ihn kennenlernte, war er für mich ein alter<br />
Mann. 70 Jahre oder mehr, der nie in seinem Leben<br />
irgendeinen Sport getrieben hatte. Ein schwerer<br />
Mann, mittelgroß, leicht aufgedunsen, mit einer runden<br />
Stirn, wenig Haaren und einer starken Brille, hinter der die<br />
Augen kaum zu sehen waren. Seine Bewegungen waren<br />
langsam, und wenn er sich erhob, hatte er einige Mühe,<br />
wieder in Bewegung zu kommen. Trotzdem wanderte er<br />
gern zu festgesetzten Zeiten, um sich Bewegung zu verschaffen.<br />
Dabei beschränkten sich diese Wanderungen auf<br />
wenige Kilometer, die er nach Möglichkeit in einem Zug<br />
laufen wollte, weil er immer sagte, dass auch alte Pferde<br />
sich lieber immer in Bewegung befänden, weil ihnen das<br />
Aufstehen schwerfiele. Die Gruppe setzte sich meistens<br />
zusammen aus ihm, seiner energischen Sekretärin, einer<br />
stabilen Frau, meiner Frau, mir und ein oder zwei anderen<br />
Bekannten. Manchmal schloss sich sein Cousin an, der in<br />
Gelsenkirchen die Bahnhofsbuchhandlung betrieb.<br />
Ging es einen Hügel hinauf, mussten wir Vater Busch,<br />
wie wir ihn nannten, hinaufschieben, was er sich gern<br />
gefallen ließ, und er genoss dabei das Gefühl, umsorgt<br />
zu sein.<br />
Die Verbindung zu ihm kam über meine Frau und<br />
ihre Familie, der er im südlichen Münsterland, mit Preußischem<br />
Landrecht, auf das er spezialisiert war, immer<br />
den nötigen Rechtsbeistand gewährt hatte.<br />
Inzwischen waren die Eltern tot und das freundschaftliche<br />
Verhältnis hatte sich auf die Töchter, meine<br />
Schwägerin und meine Frau, übertragen. Meine Anwesenheit<br />
schien er wenigstens zur Kenntnis zu nehmen,<br />
so dass sich Gespräche ergaben, die sich über das allgemeine<br />
Geplänkel erhoben. Er war am Tagesgeschehen<br />
interessiert, an Politik und Religion, bei der er allerdings<br />
mehr unbewusst als bewusst seinen besonderen Standpunkt<br />
vertrat, den ich anfangs nicht verstand.<br />
Alles ist schon lange her, aber nichts ist vergessen.<br />
Damals gingen die holländischen Katholiken gerade auf<br />
die Barrikaden, weil sie mit Rom in vielen Dingen nicht<br />
übereinstimmten. Sie wollten Modernität der Kirche und<br />
stießen auf Granit. Was schon 2000 Jahre praktiziert wurde,<br />
musste richtig sein. Auch ich war katholisch getauft,<br />
aber mein Blick war nicht, wie bei vielen, durch Weihwasser<br />
verschleiert, und ich nahm zur Kenntnis, dass vieles<br />
faul sein musste. Das fing an bei unserem lieben Pastor<br />
in unserer kleinen Stadt in der Diaspora, in der ich aufgewachsen<br />
war. Ein gütiger Mensch mit einer durchaus<br />
nicht despektierlich gemeinten Herzenseinfalt, der aber<br />
ein Faible für kleine Jungen hatte, und endete nach dessen<br />
Ablösung aus Altersgründen mit dem neuen Würdenträger,<br />
dessen Kontakte immer nur für die reichen Familien<br />
langte. Sicherlich Äußerlichkeiten, vielleicht entschuldbar,<br />
vielleicht vernachlässigbar, immerhin aber stark genug,<br />
um schon bei einem Kind, das ich damals war, Gedanken<br />
in Bewegung zu setzen. Die Holländer hatten zu der Zeit<br />
begründetere Sorgen, wurden aber alsbald zurückgepfiffen<br />
und das Problem wurde durch Personalveränderungen gelöst.Als<br />
ich mit Vater Busch einmal darüber sprechen wollte,<br />
meinte er nur: „Ach, Herr Buhl, lassen sie mir doch einfach<br />
nur meinen kleinen Kinderglauben.“ Ich begriff noch nicht,<br />
wunderte mich nur, dass ein erwachsener Mensch solche offenbar<br />
so eminent wichtigen Dinge nicht diskutieren wollte.<br />
Er war doch ein intelligenter, redegewandter, mitten im Leben<br />
stehender Mann. Und wenn er auch nicht mehr gut sehen<br />
und hören konnte, waren seine Gedanken doch nicht eingeschränkt.<br />
Wo lagen die Ursachen?<br />
Irgendwie genoss ich es, dazuzugehören, eingebunden in<br />
einen Rahmen, der mir während meines bisherigen Lebens<br />
unbekannt geblieben war. Vater Busch wurde für mich ein<br />
fester Bezugspunkt, dem ich ein fast familiäres Vertrauen<br />
52 durchblick 3/<strong>2012</strong>