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2012-03

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Erinnerung<br />

DIE FRAU MIT DEM HUT<br />

Foto: Gottfried Klör<br />

Als ich ihn kennenlernte, war er für mich ein alter<br />

Mann. 70 Jahre oder mehr, der nie in seinem Leben<br />

irgendeinen Sport getrieben hatte. Ein schwerer<br />

Mann, mittelgroß, leicht aufgedunsen, mit einer runden<br />

Stirn, wenig Haaren und einer starken Brille, hinter der die<br />

Augen kaum zu sehen waren. Seine Bewegungen waren<br />

langsam, und wenn er sich erhob, hatte er einige Mühe,<br />

wieder in Bewegung zu kommen. Trotzdem wanderte er<br />

gern zu festgesetzten Zeiten, um sich Bewegung zu verschaffen.<br />

Dabei beschränkten sich diese Wanderungen auf<br />

wenige Kilometer, die er nach Möglichkeit in einem Zug<br />

laufen wollte, weil er immer sagte, dass auch alte Pferde<br />

sich lieber immer in Bewegung befänden, weil ihnen das<br />

Aufstehen schwerfiele. Die Gruppe setzte sich meistens<br />

zusammen aus ihm, seiner energischen Sekretärin, einer<br />

stabilen Frau, meiner Frau, mir und ein oder zwei anderen<br />

Bekannten. Manchmal schloss sich sein Cousin an, der in<br />

Gelsenkirchen die Bahnhofsbuchhandlung betrieb.<br />

Ging es einen Hügel hinauf, mussten wir Vater Busch,<br />

wie wir ihn nannten, hinaufschieben, was er sich gern<br />

gefallen ließ, und er genoss dabei das Gefühl, umsorgt<br />

zu sein.<br />

Die Verbindung zu ihm kam über meine Frau und<br />

ihre Familie, der er im südlichen Münsterland, mit Preußischem<br />

Landrecht, auf das er spezialisiert war, immer<br />

den nötigen Rechtsbeistand gewährt hatte.<br />

Inzwischen waren die Eltern tot und das freundschaftliche<br />

Verhältnis hatte sich auf die Töchter, meine<br />

Schwägerin und meine Frau, übertragen. Meine Anwesenheit<br />

schien er wenigstens zur Kenntnis zu nehmen,<br />

so dass sich Gespräche ergaben, die sich über das allgemeine<br />

Geplänkel erhoben. Er war am Tagesgeschehen<br />

interessiert, an Politik und Religion, bei der er allerdings<br />

mehr unbewusst als bewusst seinen besonderen Standpunkt<br />

vertrat, den ich anfangs nicht verstand.<br />

Alles ist schon lange her, aber nichts ist vergessen.<br />

Damals gingen die holländischen Katholiken gerade auf<br />

die Barrikaden, weil sie mit Rom in vielen Dingen nicht<br />

übereinstimmten. Sie wollten Modernität der Kirche und<br />

stießen auf Granit. Was schon 2000 Jahre praktiziert wurde,<br />

musste richtig sein. Auch ich war katholisch getauft,<br />

aber mein Blick war nicht, wie bei vielen, durch Weihwasser<br />

verschleiert, und ich nahm zur Kenntnis, dass vieles<br />

faul sein musste. Das fing an bei unserem lieben Pastor<br />

in unserer kleinen Stadt in der Diaspora, in der ich aufgewachsen<br />

war. Ein gütiger Mensch mit einer durchaus<br />

nicht despektierlich gemeinten Herzenseinfalt, der aber<br />

ein Faible für kleine Jungen hatte, und endete nach dessen<br />

Ablösung aus Altersgründen mit dem neuen Würdenträger,<br />

dessen Kontakte immer nur für die reichen Familien<br />

langte. Sicherlich Äußerlichkeiten, vielleicht entschuldbar,<br />

vielleicht vernachlässigbar, immerhin aber stark genug,<br />

um schon bei einem Kind, das ich damals war, Gedanken<br />

in Bewegung zu setzen. Die Holländer hatten zu der Zeit<br />

begründetere Sorgen, wurden aber alsbald zurückgepfiffen<br />

und das Problem wurde durch Personalveränderungen gelöst.Als<br />

ich mit Vater Busch einmal darüber sprechen wollte,<br />

meinte er nur: „Ach, Herr Buhl, lassen sie mir doch einfach<br />

nur meinen kleinen Kinderglauben.“ Ich begriff noch nicht,<br />

wunderte mich nur, dass ein erwachsener Mensch solche offenbar<br />

so eminent wichtigen Dinge nicht diskutieren wollte.<br />

Er war doch ein intelligenter, redegewandter, mitten im Leben<br />

stehender Mann. Und wenn er auch nicht mehr gut sehen<br />

und hören konnte, waren seine Gedanken doch nicht eingeschränkt.<br />

Wo lagen die Ursachen?<br />

Irgendwie genoss ich es, dazuzugehören, eingebunden in<br />

einen Rahmen, der mir während meines bisherigen Lebens<br />

unbekannt geblieben war. Vater Busch wurde für mich ein<br />

fester Bezugspunkt, dem ich ein fast familiäres Vertrauen<br />

52 durchblick 3/<strong>2012</strong>

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