2012-03

Erinnerung
entgegenbrachte, das noch durch meine Idealvorstellungen
über charakterliche Eigenschaften von Akademikern und
exponierten Personen, wie Ärzten, Pastoren,Amtspersonen
gestützt wurde. Kästner hat einmal formuliert, dass er als
kleiner Junge geglaubt habe, große Personen müssten auch
große Menschen sein. Er habe sich aber getäuscht. Bei dem
alten Herrn brauchte ich meine Idealvorstellungen am wenigsten
in Frage zu stellen. Er hatte von vornherein einen
Vertrauensbonus, und selbst heute kann ich mir nicht vorstellen,
dass er diesen jemals missbraucht hätte.
So kam es, dass er mich gelegentlich einlud, ihn einmal
zu besuchen, und ich nahm diese Einladungen nur zu gern
an und lernte dabei auch seine Frau kennen. Bisher hatte
man sie nur gelegentlich erwähnt. Sie war für mich keine
kalkulierbare noch kalkulierwürdige Person gewesen.
Klein, schmal, unscheinbar mit einem leicht verkniffenen
Mund und einem höflichen Lächeln, das erstarrte, wenn
man nicht mehr hinsah. Es liegt nahe, auch als wahr anzunehmen,
wenn berichtet wurde, dass sie jeden Sonntag – sie
war erz-katholisch – in die Kirche ging, angetan mit ihren
besten Stücken und einem großen, breitrandigen Hut, den
Frauen ja in der Kirche merkwürdigerweise nicht abzunehmen
brauchen. Dieser Hut wurde für mich die Inkarnation
einer heuchlerischen, eitlen, puritanischen Gesinnung,
nachdem ich merkte, dass hinter der Fassade eines wohlrenommierten
Hauses kein Heim zu finden war.
Es war ein Haus wie viele andere, in einer respektablen
Wohngegend der Großstadt. Eine gediegene Einrichtung, keine
Auffälligkeiten in Form von Zugeständnissen an die Zeit.
Und trotz der hohen Fenster wirkte der Raum, in dem der alte
Herr lebte, kalt und steril. In einem Lehnsessel hörte er seine
Hörbücher aus der Leihbibliothek und verdammte sich damit
selbst zur Unbeweglichkeit. Aber die geistige Nahrung war
ihm wohl wichtig genug. Für sein Leibeswohl wurde gesorgt,
oh ja, der Teller mit seinem Essen wurde ihm ins Zimmer gebracht.
Er bemerkte wohl meine Reaktion, denn er fragte mich,
ob er nicht für seine Familie alles getan hätte, und kassierte
wie bei einer rhetorischen Frage die entsprechende Antwort.
Ausdruck einer Verzweiflung, die mir das Blut in den
Kopf trieb und meine Augen mit Tränen füllten.
An die Gläubigkeit von Menschen hatte ich nie so recht
glauben können, zu häufig wurden die Worte nicht durch
Taten belegt. Hier aber bekam der Glaube für mich plötzlich
eine inhaltsschwere Bedeutung. Glaube an Auferstehung,
an Hoffnung, an Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Glaube
an göttliche Gnade und immerwährende Heilswirkung
für ein krankes Herz. Nun verstand ich den Kinderglauben
und die Ablehnung aller theoretischen Geschmeidigkeiten.
Ein Mann sehnte sich nach Wärme, Zuwendung und Liebe
und fand sie allein in seinem Gespräch mit seinem Gott,
und der Glaube daran war seine einzige Lebensbestätigung.
Johannes Buhl
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durchblick 3/2012 53