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In seinem neuen großen New-York-Roman nach »Die Festung der Einsamkeit« und »Motherless Brooklyn« erzählt Jonathan Lethem in seinen<br />

eigenen, so zarten wie klaren, so zauberhaften wie präzisen Worten, Bildern und Gestalten von nichts anderem als von der Wirklichkeit unsere<br />

Tage, da alle nach dem richtigen Leben suchen und immer das falsche finden.<br />

Lethem zeichnet ein New York, das es so nicht gibt und das wir doch alle zu kennen glauben. Die Stadt wird regiert von einem<br />

milliardenschweren Bürgermeister, eine Mischung aus Rudolph Giuliani und Michael Bloomberg. Manhattan wird nicht nur von einem angeblich<br />

entlaufenen Tiger unsicher gemacht, bei dem es sich indes auch um einen außer Kontrolle geratenen Tunnelbohrer handeln könnte, der<br />

unversehens Löcher in die Stadtlandschaft reißt. Ein postmoderner Künstler überzieht die Metropole zudem mit bedeutungsschwangeren<br />

Kratern und Fjorden, die das Unterste nach oben kehren. Erste Risse in der Oberfläche zeigen sich. Was jedoch im vornehmsten Viertel, der<br />

Upper East Side, symbolisch gesprochen, zutage befördert wird, ist letztendlich erschreckender als alles, was im Untergrund schlummert.<br />

Chase, der sich in diesen noblen Kreisen bewegt, fehlt dafür aber der Durchblick. Der von Migräne geplagte Perkus dagegen durchschaut den<br />

ganzen Schwindel, die Scheinheiligkeit von Politik und Presse, die Geistlosigkeit der Schickeria. Obgleich er dabei ist, den Bezug zur Realität zu<br />

verlieren, nimmt er Chase unter seine Fittiche, während der versucht, ein wenig Ordnung in Perkus' verkrachte Existenz zu bringen.<br />

Gemeinsam erliegen sie derweil der Faszination einer geheimnisvollen Art Keramik, die eine bewusstseinserweiternde Erfahrung in sich birgt.<br />

Wenn sie sich schließlich als Trugbild entpuppt, hat Lethems irrlichternder Plot die Grenze zwischen Schein und Sein bereits mehrmals<br />

überquert. »Du bist der perfekte Avatar für die Virtualität der Stadt«, sagt Perkus zu Chase, womit die Verhältnisse endgültig auf den Kopf<br />

gestellt werden, da zuvor noch ein Obdachloser mit online gefertigten Schätzen in einem künstlichen Universum echte Dollars verdiente.<br />

Mit dieser Persiflage der virtuellen Welt Second Life ist Jonathan Lethem allerdings etwas spät dran. Längst muss man sagen: Die<br />

augenzwinkernde Reflektion der Wechselwirkungen zwischen Realität und Fiktion in der Postmoderne ist inzwischen ein alter Hut.<br />

Doch davon unverdrossen und auf seltsame Weise zeitlos zeichnet Jonathan Lethem ein eindrucksvolles Porträt eines dekadenten Manhattans,<br />

dessen Einwohner in Medienmanipulationen und politischen Betrügereien gefangen sind und hat damit einen großen Gesellschaftsroman über<br />

die eisige Welt des Geldes und des schönen Scheins, der Dinnerpartys und der Charity-Events geschaffen.<br />

Anhand der sich mählich entwickelnden Freundschaft von Chase und Perkus, die im Zentrum dieses mitreißenden und vielschichtigen Romans<br />

steht, zeigt Lethem, wie man den Boden unter den Füßen verliert, um anschließend wieder Tritt zu fassen. Er führt vor, wie man trotz all der<br />

popkulturellen Referenzen, die er stilsicher in das Geschehen verwebt, klaren Kopf bewahrt, und wie zumindest Chase das richtige Leben im<br />

falschen erkennt, obwohl sein Dasein dem rührseligen Drehbuch eines bekifften Ghostwriters zu entspringen scheint. Ihm auf der Suche nach<br />

Wahrheit durch ein verzweigtes Labyrinth aus Lügen, Intrigen und medialen Manipulationen zu folgen ist eine ungemein spannende Lektüre.<br />

19<br />

Axel Hallsteiner

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