Annals of the History and Philosophy of Biology

Argumentations- und Vermittlungsstrategie in Müllers Handbuch der Physiologie
durch sie bedingten Verfahren, setzt das Experiment Maßstäbe für eine wissenschaftliche
Erfahrung.
Dies ist aber keine Erfindung Müllers. Diese Art der Demonstration eigener Aussagen
im Kontext einer apparativen Praxis war schon vor 1830 Standart einer Naturforschung.
10 Nach 1830 wird aber die Empirie in neuer Weise thematisch, steht sie doch
zumindest im deutschen Sprachraum, in dem auch Müller seine Ausbildung fand, in einem
Begründungszusammenhang, der interessanterweise zunächst innerphilosophischen
Vorgaben folgt. 11 In dem Jahrzehnt nach 1800 hatte die spekulative Philosophie den
Anspruch formuliert, Erfahrung sichern und die Kriterien zur Evaluation des Empirischen
vorgeben zu können. 12 Die bisherige Wissenschaftsgeschichte hat diesen Vorlauf,
bedingt auch durch die eher selektive Interpretation der Philosophiegeschichte, nur näherungsweise
in den Blick genommen. Erfahrung – das zeigt dieser Ausblick – wird
nicht erst in der analytischen Konzeption der Naturwissenschaft zum Ansatzpunkt weiter
ausgreifender Aussagen der Naturforschung. 13 Das umfangreiche Systematisierungsprogramm
von Lorenz Oken, das erst in den 1840er Jahren abgeschlossen war, 14 zeigt
dass noch Mitte des 19. Jahrhunderts dieses Programm einer philosophischen Orientierung
des Erfahrungswissens innerhalb der Naturforschung selbst Akzeptanz fand. 15
Erfahrung figuriert in diese Theorieentwürfen dabei allerdings allein als Illustration innertheoretisch
abgesicherter Aussagezusammenhänge. 16 Bei Müller ist die Erfahrung nun
in anderer Weise in den Argumentationsgang eingewoben. Brigitte Lohff hat 1979 diesen
Neuansatz Müllers beschrieben; 17 sie skizziert, wie Müller in seiner Darstellung grundsätzliche
Aussagen durch Experimente zu erhärten und die so gewonnene Konturierung
eines Aussagezusammenhanges dann durch Argumente aus der Literatur zu bekräftigen
suchte. 18 Auch in der vorliegenden Arbeit geht es um die Bedeutung der Beschreibung
von Erfahrungen im Kontext einer Argumentation. Gezeigt werden kann, dass Müller
10 Wiesenfeld, Gerhard: Leerer Raum in Minervas Haus.Experimentelle Naturlehre an der Universität Leiden,
1675-1715. Amsterdam, Berlin & Diepholz 2002.
11 Breidbach, Olaf: Naturphilosophie und Medizin im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Naturphilosophie und
Technikverständnis. Hg. K. Pinkau, C. Stahlberg. Stuttgart 1998.
12 Bach, Thomas, Breidbach, Olaf (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt. 2004.
13 Breidbach, Olaf: Schelling und die Erfahrungswissenschaften. Sudhoffs Archiv 2004: Im Druck.
14 Oken, Lorenz: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. 6 Bde. Stuttgart 1833-1843.
15 Breidbach. Olaf, Ghiselin, Michael: Lorenz Oken’s Naturphilosophie in Jena, Paris and London. Journal
for the History and Philosophy of Life Sciences 24 (2002) 219-247.
16 Bach, Thomas: „Was ist das Thierreich anders als der anatomirte Mensch…?“ Oken in Göttingen (1805-
1807). In Lorenz Oken (1779-1851) Ein politischer Naturphilosoph. Hg. O. Breidbach, H.-J. Fliedner, K.
Ries. Weimar 2001: 73-91.
17 Lohff, Brigitte: Hat die Rhetorik Einfluß auf die Entstehung einer experimentellen Biologie in Deutschland
gehabt? Eine Studie zu Johannes Müllers Physiologie. In: Disciplinae Novae. Zur Entstehung neuer
Denk- und Arbeitsrichtungen in der Naturwissenschaft. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Schimak.
Hg. J. Scriba. Göttingen 1979, S. 127-146.
18 Ebda, S. 132; vgl. Dear, P.: Narratives, anecdotes, and experiments: turning experience in science in the
seventheenth century. In: The Literature Structure of Scientific Argument. Historical Studies. Hg. P. Dear.
Philadelphia 191, S. 135-163.
Annals of the History and Philosophy of Biology, Vol. 10 (2005)
5