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Annals of the History and Philosophy of Biology

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Argumentations- und Vermittlungsstrategie in Müllers H<strong>and</strong>buch der Physiologie<br />

Der Ansatz<br />

Die Physiologie [so beginnt Müller mit den Prolegomena über die allgemeine Physiologie] ist die<br />

Wissenschaft von den Eigenschaften und Erscheinungen der organischen Körper, der Thiere und<br />

Pflanzen, und von den Gesetzen, nach welchen ihre Wirkungen erfolgen. Die erste Frage, welche<br />

man sich beim Eintritt in diese Wissenschaft zu beantworten hat, ist die nach dem Unterschied<br />

der organischen und anorganischen Körper. Sind die Körper, welche die Erscheinungen des<br />

Lebens darbieten, in ihrer materiellen Zusammensetzung von den unorganischen Körpern verschieden,<br />

deren Eigenschaften die Physik und Chemie untersuchen, oder sind auch die Grundkräfte<br />

welche sie bewirken, verschieden, ... oder sind die Grundkräfte des organischen Lebens nur<br />

Modifikationen der physischen und chemischen Kräfte? 33<br />

Die Physiologie fragt also nicht nach den Grundursachen des Lebens, sondern nach den<br />

Grundkräften in deren Identifikation sich dessen Erscheinungen erklären. Diese Grundkräfte<br />

erfasst sie in der Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten der Lebensvorgänge. Dabei<br />

skaliert sie die Lebensprozesse gemäß dem ihr zur Verfügung stehenden deskriptiven<br />

Ansatz. Sie zergliedert die verschiedenen Reaktionsformen und sucht zunächst nach den<br />

Elementen, in denen sich diese Reaktionsabfolge beschreiben lässt. In einem zweiten<br />

Schritt wird dann die Ordnung, in die sich diese Elemente einbinden, rekonstruiert. Der<br />

physiologische Prozess erscheint damit als eine in einfache experimentell zugängliche<br />

Teilschritte zu zergliedernde Reaktionsabfolge der eingangs skizzierten Grundelemente<br />

organischer Organisationen. Diese sind nicht mehr die komplexen Lebensvorgänge, die<br />

noch Haller beschrieb, sondern chemisch-physikalische Prozesse. Der Physiologe gleicht<br />

in seiner Arbeit einem Prosektor, der das ihm zur Verfügung stehende Material auf seine<br />

Best<strong>and</strong>teile hin zergliedert, diese Elemente dann in ihrem Zusammenhang beschreibt<br />

und aus dieser Zusammensetzung ihre Reaktionsformen rekonstruiert. Seine Sektion<br />

führt aber über die Gestalten der Organe hinunter auf die sie konstituierenden physiologischen<br />

Prozesse. Ein Lebensprozess zeigt sich so als Komposition, die aus dem Zusammenwirken<br />

der dergestalt identifizierten Elemente zu begreifen ist. 34<br />

Dabei ist die hier nach Müller zu vollziehende Sektion derart umfassend. Sie zielt auf<br />

die chemischen Elemente, in denen sich die Reaktionsprozesse konstituieren. Die Rekonstruktion<br />

der Funktionseinheiten aus den so gewonnenen Darstellungen der Elemente<br />

zeigt die prinzipiellen Reaktionsklassen auf, in denen Organik und Anorganik konstituiert<br />

sind. Die in diesen organischen Prozessen zu identifizierenden Kräfte benennen<br />

demnach nichts <strong>and</strong>eres als Reaktionstypen. Die Kraft kennzeichnet einen funktionalen<br />

Zusammenhang in der Konstitution der den Organismus aufbauenden Elemente und<br />

kein in dieser Beschreibung zu fassendes Prinzip. Die Physiologie wird damit zu einer<br />

deskriptiven, induktiv verfahrenden Wissenschaft.<br />

Es ist nicht mehr die Metamorphose einer Natur – wie sie noch in Hegels Entwurf<br />

einer Stufung der Naturdinge, in der Goe<strong>the</strong>schen Morphologie oder auch in Burdachs<br />

33 Müller, Johannes: H<strong>and</strong>buch der Physiologie des Menschen. Koblenz 1844, S. 1; im Weiteren wird nach<br />

dieser, die definitive Formulierung von Müllers Programm einer Physiologie <strong>of</strong>ferierenden Ausgabe zitiert.<br />

34 Vgl. Lohff, Brigitte: Johannes Müller und das physiologische Experiment. In: Johannes Müller und die<br />

Philosophie. Hg. M. Hagner, B. Wahrig-Schmidt. Berlin 1992, S. 105-123.<br />

<strong>Annals</strong> <strong>of</strong> <strong>the</strong> <strong>History</strong> <strong>and</strong> <strong>Philosophy</strong> <strong>of</strong> <strong>Biology</strong>, Vol. 10 (2005)<br />

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