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Annals of the History and Philosophy of Biology

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Argumentations- und Vermittlungsstrategie in Müllers H<strong>and</strong>buch der Physiologie<br />

übergreifenden, in dieser Disziplin nicht mehr zu begründenden Ordnungszusammenhang<br />

stellt.<br />

Gerade in dieser Abgrenzung zu den zeitgleichen naturphilosophisch begründeten<br />

Ordnungsmustern der Naturforschung gewinnt Müllers Konzeption einer Physiologie<br />

für das 19. Jahrhundert ihre über seine Disziplin hinaus wirkende Bedeutung. Die von<br />

Müller minutiös entfaltete Strategie, das Experiment selbst als Maßstab der erfahrungswissenschaftlichen<br />

Argumentation zu nehmen, befreit ihn von der naturphilosophischen<br />

Reflexion, unter der die Befunde der Erfahrungswissenschaften – wie etwa bei Oken –<br />

zwar systematisierbar waren, zugleich aber immer Prinzipien in der Argumentation mitgeführt<br />

wurden, die in der Erfahrungswissenschaft selbst nicht zu <strong>the</strong>matisieren waren,<br />

sondern dieser schlicht vorausgesetzt wurden. Erst der konsequente Verzicht auf eine<br />

derartige fundierte Prinzipienlehre erlaubt es, im Experiment Erfahrungsräume zu explorieren<br />

und nicht nur immer nach dem zu suchen, was schon vorab bestimmt worden war.<br />

Damit fundierte Müller eine moderne, experimentell ausgerichtete Physiologie. Diese<br />

Strategie führte aber dann dort an Grenzen, wo in den experimentell einzuholenden<br />

Erfahrungsraum die interessierenden Phänomene nur in Teilbereichen abbildbar waren.<br />

Akzeptabel waren dieser Physiologie nur die Beobachtungszusammenhänge, die sie in<br />

dem ihr verfügbaren Instrumentarium experimentell nachstellen konnte. Die Einschränkung<br />

auf eine sich derart in einer auch apparativ konsolidierten Praxis bewegenden Physiologie<br />

markierte zugleich aber auch die Stärke ihres Vorgehens. War es so doch möglich,<br />

die Analyse von Lebensfunktionen auf breiter Front in ein Format zu bringen, in<br />

dem nun auch die innerhalb der Methodik zu beantwortenden Fragen zu formulieren<br />

waren. 100 Dies ist bekannt, dieser methodische Pragmatismus kennzeichnet für die Wis-<br />

100 Vgl. Breidbach, Olaf: Die Materialisierung des Ichs. Frankfurt 1997. Problematisch wurde dieses pragmatische<br />

Vorgehen, in dem die grundsätzlichen Fragen der Physiologie, wie sie noch Burdach in seiner Anthropologie<br />

formuliert, auf die experimentell lösbare Problemansätze zurückgefahren werden, dann, wenn solch<br />

ein pragmatischer Ansatz ontologisiert wurde. Das heißt, wenn die Problemansätze von vornherein auf eine<br />

Fragestellung reduziert wurden, die mit den Methoden der Physiologie einholbar war; und damit alternative<br />

Beschreibungsansätze, wie der einer nicht physiologischen Psychologie grundsätzlich abgelehnt wurden. In<br />

diesem Moment hatte sich der pragmatische Ansatz einer bei Müller noch explorativ zu verstehenden experimentellen<br />

Physiologie dogmatisiert. Damit wurde diese Physiologie zu einer Weltanschauung. Inwieweit<br />

dies auch die Konsequenz einer innerdisziplinären und nicht allein nur einer umfassender zu zeichnenden<br />

wissenschaftskulturellen Entwicklung war, muss im Rahmen dieses Aufsatzes <strong>of</strong>fen bleiben. Mit der entsprechenden<br />

Dogmatisierung der empirischen Methode, wie sie nach 1870 sowohl Emil Du Bois-Reymond<br />

wie auch Ernst Haeckel (1834-1919) in explizitem, aber keineswegs unproblematischen Bezug auf Müller<br />

zelebrierten, wurde der explorative Charakter des experimentellen Argumentierens verlassen, das für Johannes<br />

Müller charakteristisch war. Du Bois-Reymond formulierte in seinem Ignorabimus ein weltanschauliches<br />

Programm, das in der physiologischen Methodik ansetzend, doch weit über den in ihr formulierten Rahmen<br />

hinausweist. Haeckel nahm diesen ‚Ball’ dann, zwar inhaltlich in eine <strong>and</strong>ere Richtung gelenkt, aber formal<br />

durchaus auf einer vergleichbaren Ebene des Argumentierens, in seinem monistischen Programm auf. Das<br />

Resultat – Haeckels „Welträthsel“ – brach dann auch gänzlich aus dem Müllerschen Wissenschaftsverständnis<br />

heraus und endete letztlich denn auch im Postulat einer Monistischen Religion. Die Akkuratesse der<br />

Müllerschen Argumentation wurde in solch einer weltanschaulichen Vereinnahmung verlassen. Gesichert<br />

wurde ein entsprechendes Weltbild nicht mehr in der Analyse der Fakten, Sicherheit gab vielmehr der weltanschauliche<br />

Konsens innerhalb der physiologischen Schulen. Eine in dieser Perspektive akzentuierte Geschichte<br />

der durch Müller fundierten Physiologie wäre aber noch zu schreiben.<br />

<strong>Annals</strong> <strong>of</strong> <strong>the</strong> <strong>History</strong> <strong>and</strong> <strong>Philosophy</strong> <strong>of</strong> <strong>Biology</strong>, Vol. 10 (2005)<br />

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