25.04.2023 Views

Kunstbulletin Mai 2023

Unsere Mai Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Katharina Grosse, Kunst und Klima, Alexandra Bachzetsis, Johanna Bruckner, uvm.

Unsere Mai Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Katharina Grosse, Kunst und Klima, Alexandra Bachzetsis, Johanna Bruckner, uvm.

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

Sie ist rot gekleidet. Sie sitzt auf einer abschüssigen Kieshalde, auf einer gepflasterten<br />

Böschung, auf freigelegten Betonrohren, einem Mäuerchen. Stehend lehnt sie<br />

sich an ein Garagentor – Aufschrift: «A vendre» –, hat einen blendend neuen Wellblechzaun<br />

hinter sich und fast immer eine Baustelle. Adji Dieye ist allein in den Kulissen<br />

noch fensterloser Immobilien; nichts rührt sich im Gelände der Foire International<br />

de Dakar FIDAK, ausser der zerschlissenen Plache, die einen hoch aufragenden<br />

Pavillon wohl seit langer Zeit notdürftig vor Verwitterung schützt. Adji Dieye liest einen<br />

Brief aus dem Jahr 1973 von Léopold Sédar Senghor, damals Senegals Präsident.<br />

«Mes chers compatriotes, …»: Ohne dass man der Tonspur in ihrer Videoinstallation<br />

akustisch lückenlos folgen könnte, ist Französisch erkennbar. Hinter den angehobenen<br />

weissen Blättern bleibt die Protagonistin meist verborgen, während sie sich zugleich<br />

im offenen Terrain exponiert. Wir sind in Dakar, dem eigentlichen Zentrum der<br />

einst französischen Kolonien Westafrikas.<br />

Die Blindheit von Archiven<br />

Senegals Hauptstadt ist ein Synonym des Wandels und ihre Entwicklung seit<br />

der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 ein unkontrollierter Prozess. «Es ist<br />

schwer, in diesem Raum Fuss zu fassen», sagt die Künstlerin. Ganze Quartiere seien<br />

innerhalb von Wochen nicht mehr wiederzuerkennen. Mit Konsequenzen für ihre<br />

Bewohner:innen und fürs Gedächtnis der Stadt. Adji Dieye untersucht diese Dynamik<br />

aus der Perspektive der Diaspora. Sie selbst ist als Tochter eines Senegalesen und<br />

einer Italienerin in <strong>Mai</strong>land aufgewachsen und biografisch mit kultureller Differenz<br />

vertraut. In der ikonografischen Sammlung des Nationalarchivs stiess sie nicht nur<br />

auf Papierbündel, Negative und Filmrollen, die unter konservatorisch desolaten Bedingungen<br />

dem Zerfall und Vergessen preisgegeben sind. Sie realisierte auch, dass<br />

das offizielle Erbe der Nation versiegelt bleibt in einer Sprache, in der viele «compatriotes»<br />

nie zu Hause waren. «Ich musste die Frankophonie durchqueren, um überhaupt<br />

Bezüge herstellen zu können.» Die französische Sprache war lange Teil einer<br />

Kultur der Dominanz, eingeführt zum Preis von Zucker, Kautschuk, Baumwolle und<br />

billigen Arbeitskräften.<br />

«Weil das Archiv nicht zu hören weiss, kennt es für die Vergangenheit nur die lineare<br />

Struktur des Textes», fasst die mexikanische Künstlerin Frida Robles im Begleitkatalog<br />

zu Dieyes Ausstellung im Fotomuseum Winterthur zusammen. «Es vergisst<br />

das Magische, die Lieder und die Grossmütter. Es vergisst die Illusionen, die Tränen<br />

und den Schweiss.» Die Blindheit gegenüber lokaler Tradition und Sprache gab Adji<br />

Dieyes jüngster Installation den Titel mit: Das griechische Wort «Aphasie» bedeutet<br />

wörtlich «Sprachlosigkeit» und bezeichnet also den Verlust des Sprach- und damit<br />

auch des Erinnerungsvermögens.<br />

‹Aphasia› ist ein analytisches Stück. Es handelt von einem leisen Ringen um Zugehörigkeit<br />

und Identifikation. In der Sprache der Kolonialherrschaft bleibt Rückkehr<br />

ein Versuch. Befangen im Text, verkörpert die Künstlerin notgedrungen auch ihre<br />

eigene Entfremdung. Denn Wolof, die Sprache ihrer senegalesischen Angehörigen,<br />

FOKUS // ADJI DIEYE<br />

37

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!