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102 Rainer Grübel<br />
sogar auf ein Trinkgelage von Junggesellen beim Lehrer des Mädchengymnasiums<br />
Schelúdkow. Hier entspann sich ein Streitgespräch mit Desnitzki, der mächtig<br />
gegen Philosophie und Philosophen vom Leder zog und eifernd schrie: „Auch wir<br />
verstehen etwas!“ Auf dem Gipfel des Streits griff er das Buch Vom Verstehen,<br />
das Rosanow Scheludkow feierlich überreicht hatte, vom Regal knöpfte seine Hose<br />
auf und bepinkelte es unter allgemeinem Gelächter: „Und ihr Verstehen, Wassíli<br />
Wasílitsch, das ist es, was es wert ist.“ (Pervov 1995, 95).<br />
Dieses Buch war ein Wagnis, richtete es sich doch offen gegen die russische<br />
Kathederphilosophie. Rosanow griff unverblümt die von Professor Troitzki vertretene<br />
englische Erfahrungspsychologie an – zumal Bacon und die induktive Logik.<br />
Die Studie untersucht, was Rosanow die „Seiten der Welt“ nannte. Sie entsprechen<br />
Kants „Kategorien“. Die „Schemata des Verstandes“ werden hier jedoch weder rein<br />
logisch noch psychologisch, sondern kosmologisch gefaßt. Es geht im Kern wie<br />
in Aristoteles’ Metaphysik nicht um „Ursache“ oder „Zweckmäßigkeit“ im Sinne<br />
begrifflicher Kategorien; es ist dem Verfasser nicht um den Begriff des Zweckhaften<br />
zu tun, sondern um das Gefüge, die Bauweise der natürlichen zweckmäßigen<br />
Vorgänge selbst. In dem, was er mit der Kompaktheit eines Wörterbuchs auf den<br />
ersten siebzig Seiten darzulegen suchte, gab es, wie Rosanow auch später noch<br />
überzeugt war, neben dem von anderen „lange entdeckten Amerika“ auch eine<br />
Menge „sympathischer Inseln“, auf die noch nie der Blick des menschlichen Auges<br />
gefallen war (Rozanov 2001, 18).<br />
Eine wiederentdeckte Insel ist für die Neuzeit die Beschränkung der wissenschaftsfähigen<br />
Kenntnis auf das keiner Veränderung unterworfene Dauerhafte, auf<br />
das Ewige. Rosanow nennt Wissenschaft nämlich im Anschluß an Aristoteles nur<br />
die Kenntnis, die sich auf ewig Seiendes bezieht. Das Veränderliche schließt er aus<br />
der Wissenschaft völlig aus. Das Gesetzmäßige, das Veränderungen hervorruft,<br />
steigt nur, sofern es Bestand hat, selbst auf zum Gegenstand der Wissenschaft.<br />
Zeitlich ist, was geschieht; dauerhaft ist, was dieses Geschehen hervorruft, was es<br />
erschafft. Da ewig Seiendes aber nicht vor Augen liegt, muß sich die Wissenschaft<br />
dieses Ewige aus dem Sichtbaren, aus eben den Erscheinungen erschließen, die<br />
selbst dem Wechsel unterliegen. So sind ewige Kräfte zwar nicht sichtbar, rufen<br />
aber wahrnehmbare vergängliche Erscheinungen wie die Bewegung hervor, aus<br />
denen sie sich dann herleiten lassen. Dieses Herleiten ist das im Titel benannte<br />
„Verstehen“.<br />
Philosophiegeschichtlich schließt das Scheiden des Beständigen, des „Seienden“,<br />
vom Unbeständigen, von der „Erscheinung“ an das Abheben der veränderlichen Welt<br />
gegenüber der unveränderlichen beim Griechen Parmenides an. Wie Parmenides<br />
dem Heraklitischen Verstehen der Welt als stetem Werden die eleatische Lehre<br />
von der Welt als ewigem Sein entgegensetzte, so hat Rosanow dem positivistischen<br />
Weltentwurf der Entwicklung die Idee der Wahrheit als Ewigkeit entgegengehalten.<br />
Wo Platon im Phaidon Leben und vollkommenes Sein als Bewegung zu fassen<br />
suchte, hat Aristoteles in seiner Metaphysik die begriffliche Gegenüberstellung von<br />
Nichtbewegung und Bewegung der Bestimmung Gottes als unbeweglichen Bewegers