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Unbekannte Wirklichkeit: Die Träume Raskol’nikovs 53<br />

Auch dieser Traum wird durch die raumzeitlich unklare Wendung „Он забылся“<br />

eingeleitet, und abermals ist der Leser im Unklaren, ob es sich um eine reale,<br />

die Handlung weiterführende Situation handelt. Raskol’nikov findet sich auf der<br />

Straße wieder, in einer für ihn typischen Situation, in der er nicht genau weiß,<br />

warum und zu welchem Ziel er sich aufgemacht hat. Plötzlich – zweimal kommt<br />

hier wieder das stark markierende „вдруг“ vor – sieht er einen Mann und vermeint,<br />

dieser winke ihm zu. Etwas unsicher folgt er ihm und erkennt ihn dann als<br />

jenen Kleinbürger, den er schon einmal auf der Straße getroffen hat. Jener führt<br />

Raskol’nikov an den Ort seines Verbrechens zurück, um dann zu verschwinden.<br />

Diese erste Szene ist von drei Elementen geprägt: Unsicherheit, Dunkelheit und<br />

Stille. Keinerlei Geräusche sind zu hören, wenngleich doch Scharen von Menschen<br />

sich auf den Straßen befinden. Die ganze Geräuschkulisse ist für Raskol’nikov,<br />

der wie hypnotisiert dem Kleinbürger folgt, ausgeblendet. In der Wohnung der<br />

Wucherin angekommen, wird es Raskol’nikov langsam bewußt, daß er sich am Ort<br />

seines Verbrechens befindet. Die Stille ist ihm unheimlich und, mehr noch, seine<br />

eigenen Schritte: „И какая там тишина, даже страшно . . . Но он пошел. Шум<br />

его собственных шагов его пугал и тревожил“ (PSS 6, 213). Doch es bleibt<br />

unklar: Kehrt hier der Verbrecher nach begangener Tat an den Tatort zurück,<br />

wie es ein gängiges, zum kriminalistischen Sujet gehörendes Motiv verlangt, oder<br />

ist es ein Nacherleben der Tat, das jetzt zu erwarten steht? In diese Stille hinein<br />

fügt Dostoevskij ein retardierendes Moment, eine meisterhafte, änigmatische<br />

Synästhesie: „Огромный, круглый, медно-красный месяц глядел прямо в окна.<br />

’ Это от месяца такая тишина, – подумал Раскольников, – он, верно, теперь<br />

загадку загадывает.‘ Он стоял и ждал, долго ждал, и чем тише был месяц,<br />

тем сильнее стукало его сердце, даже больно становилось. И все тишина“ (PSS<br />

6, 213). Diese Mondesstille ist gewiß der unerhörte Gegenstand dieses Traumes,<br />

denn die dann folgende Szene, in der Raskol’nikov vergeblich die Alte zu töten<br />

versucht, ist zwar grotesk in ihrer Ausgestaltung, besonders durch das Lachen<br />

des Mordopfers, doch kommt in ihr die Welt bereits wieder ihrer Wirklichkeit<br />

näher. Der schweigende Mond indes, der immer stiller wird, also nicht heller oder<br />

dunkler, steht am Wendepunkt. Was für ein Rätsel ist es, das er aufgibt? Es ist<br />

die Situation, die Chronos und Kairos voneinander scheidet. Wird Raskol’nikov<br />

den Kairos erkennen und von seinem Vorhaben ablassen? Wird er zugleich die<br />

niederen, philiströsen Beweggründe entlarven, die ihn an den Ort des Verbrechens<br />

geführt haben: seine Habgier einerseits und seine Hybris anderseits? Oder wird er<br />

mitgerissen werden vom Strom des einmal durch eigenen Entschluß begonnenen<br />

bösen Werkes, unfähig, der Tat im letzten Moment auszuweichen? Wird aus seinem<br />

Wunsch, Herr der Geschichte zu sein, das Desaster, ihr Sklave zu sein zu müssen?<br />

Plötzlich ein kurzes Knacken, das Aufsummen einer Fliege und – dadurch vielleicht<br />

motiviert – die Entdeckung eines Mantels, hinter dem sich jemand verbirgt – sein<br />

Opfer.<br />

Das Rätsel wird gelöst. Raskol’nikov findet die Wucherin, erhebt das Beil,<br />

schlägt auf sie ein. Aber sein Tun hat keinen Erfolg. Die Alte erscheint nicht nur

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