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Ein Kapitel aus Wassili Rosanows Biographie 105<br />
Erregtheit und Asketismus, in italienischer religiöse Freude. Das Muster einer<br />
Kulturgeschichte aus Stimmungen zeichnet sich ab, und es widerrät in seiner<br />
Begründung auf Gefühlslagen aufs Schärfste wie dem Rationalismus, so auch<br />
Hegels Entwurf der ästhetischen Geschichte als geistigen Stadien des sich fühllos<br />
verwirklichenden Weltgeistes.<br />
Bei den Dichtern erfaßt Rosanow Stimmung als alles durchdringendes Gefühl:<br />
Sie präge sich allen Bildern ein, erklinge in jeder Lyrik, ob bei Dante, Schiller,<br />
Byron oder Heine. Die großen Schriftsteller schließlich brächten ihre Gemütslage in<br />
der Gestalt ihrer Sprache zum Ausdruck: Wenn ein und dasselbe Geschehnis mit<br />
gleicher Kunstfertigkeit von Herodot oder Thukydides, von Livius oder Tacitus<br />
erzählt werde, sei der Eindruck, den der Leser gewänne, doch ganz verschieden. Dies<br />
rühre von der unfaßbaren, sich keiner Analyse beugenden Verknüpfung der Wörter<br />
her, die der Autor unbewußt gebraucht habe, der sich der Leser auf unbestimmbare<br />
Weise unterwirft und die bei den Russen tiefer als in anderen Sprachen „Geist des<br />
Schriftstellers“ genannt werde. Wassili irrt zwar, wo er den „Geist der Schriftsteller“<br />
der russischen Kultur zugute hält, aber es verdient Beachtung, daß dieser Topos<br />
der deutschen Romantik in der russischen Kultur mehr Boden gewonnen hat als<br />
in englischsprachigen Ländern oder in Frankreich.<br />
Die Gemütslage zeitigt für Rosanow auch in der Philosophie Wirkung: Malebranche,<br />
Spinoza und Berkeley, Schopenhauer und Schelling sowie in der alten<br />
Zeit die Epikuräer und Stoiker hätten, ohne es selbst zu wissen – „unbewußt“!<br />
– unter dem starken Drang ihrer Stimmung gedacht und ihre Gedanken unwillkürlich<br />
dem Gefühl unterworfen, indem sie die einen Wahrheiten den anderen<br />
vorzogen. Aufschlußreich ist an dieser Gedankenfolge zunächst das Ersetzen der<br />
im Positivismus gängigen Überzeugung, die Umwelt – bei Taine: Rasse, Klima<br />
und Milieu – bedinge Denken und Schöpfen, durch den Blick auf die Wirkung<br />
des inneren Zustandes des Denkenden oder Schaffenden. Bezeichnender noch ist<br />
der Umstand, daß der Mensch diesen Stimmungen Rosanow zufolge unwillkürlich<br />
ausgesetzt ist. Sie kommen über ihn wie das Wetter, ohne daß er sich gegen sie<br />
zur Wehr setzen kann. Leider hat Rosanow in seinem Buch nicht verraten, auf<br />
welche vorherrschende Stimmung sein eigenes Philosophieren zurückgeht; daß er<br />
als „starker Charakter“ Stimmungen hatte, versteht sich von selbst.<br />
Rosanow hat seine Schellinglektüre später in Stillschweigen gehüllt. In dessen<br />
„System des transcendentalen Idealismus“ konnte er den Versuch kennenlernen,<br />
das Kernstück allen Wissens, die Übereinstimmung von Subjekt, also Geist oder<br />
Intellekt und Objekt, d.h. Natur als seinsgegebene Polarität zu erfassen. In der<br />
menschlichen Vernunft, lehrte die Schellingsche Naturphilosophie, kehre die Natur<br />
zu sich selbst zurück und kongruiere mit dem Intellekt. Hier fragt Schelling, wie<br />
zum Subjekt als Absolutem die Welt der Objekte hinzutrete. Historisch beginnt<br />
die Erkenntnis mit der ursprünglichen Empfindung, die noch nicht weiß, daß sie<br />
die Anschauung selbst hervorruft. In der Reflexion wird das Subjekt sich seiner<br />
eigenen Tätigkeit bewußt, als das Hervorbringen der mit dem Potenzreich der<br />
Natur in seinen Eigenschaften gleichwertige Formen des Objektbewußtseins in