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16 Volker Bockholt<br />
der Aoristkategorie und die Übertragung der formalen Aoristmarkierung -ø auf<br />
das Präsens gekennzeichnet ist.<br />
Übertragen wir das Prinzip des Verlaufes des Sprachwandels in den west- und<br />
den südwestslavischen Gebieten und dessen Ergebnis auf die ostslavischen Gebiete<br />
mit partiell und konsequent vorhandener Dentalendung, z.B. auf das Russische,<br />
so kann man einen analog strukturierten Vorgang erkennen. Der Schwund der<br />
Aoristkategorie, verbunden mit der Übertragung der zweiten zur Verfügung stehenden<br />
Aoristmarkierung -тъ auf das Präsens, führt zu den heutigen Verhältnissen.<br />
Im Gegensatz zu den westslavischen und den westlichen südslavischen Sprachen<br />
werden die Formantien -e- und -i- der Präsensstämme in den ostslavischen Dialekten<br />
nicht vom Sprachwandel erfaßt. Die Sonderkategorie enthält in diesem Fall<br />
für die moderne russische Standardsprache ein einziges Element, und zwar die<br />
historisch athematische Verbform есть (dtsch. er, sie ist). Der Zustand im Altkirchenslavischen<br />
und in den westmakedonischen Dialekten um Ohrid kann ebenso<br />
erklärt werden. Die in der bulgarischen und der ukrainischen Standardsprache, den<br />
bulgarischen und den ostslavischen Dialekten zu beobachtende Ausbildung von<br />
semantischen Spezialisierungen von Nullendungen auf den Singular und Dentalendungen<br />
auf den Plural mit ihren verschiedenen Variationen in den Verbklassen<br />
läßt sich ebenfalls in dieses Bild einfügen.<br />
Stangs oben zitierte Fragen wären also etwa folgendermaßen zu beantworten:<br />
Zwei funktionell verschiedene Formen [Präsens und Aorist] könnten ohne weiteres<br />
einander angeglichen werden, wenn eine dieser Formen funktionslos geworden ist.<br />
Nun ist der Aorist vom nordöstlichen bis zum südwestlichen Teil des slavischen<br />
Sprachraums tatsächlich aus dem Usus geschwunden. Seine Funktion ist in diesen<br />
Gebieten auf eine analytische Konstruktion, bestehend aus dem Hilfsverb byti<br />
und dem l-Partizip, übertragen worden. Die Form dieser Konstruktion ist von der<br />
Präsensform hinreichend sicher unterscheidbar. Im genannten Sprachgebiet sind<br />
in konsequenter Weise Nullendungen oder Endungen auf harten Dental -тъ für<br />
die 3. Person des Präsens entwickelt worden. Im südlichen Teil des ostslavischen<br />
Sprachgebietes und im östlichen Teil des südslavischen Sprachgebietes war die<br />
Entwicklung konservativer – hier wurde die indogermanische weiche Dentalendung<br />
-ть für das Präsens, dort die Aoristkategorie bewahrt. Die Sprache hatte die<br />
Möglichkeit, sich gegen Formen wie *bitъ, *trъtъ zu sträuben, weil sie dort, wo<br />
die Aoristkategorie bewahrt wurde, eine Wahl zwischen der Endung auf harten<br />
Dental -тъ und der Nullendung hatte. Die Neigung zur Nullendung war dominant,<br />
die Durchsetzung dieser Endung erfaßte nahezu alle Verben. Einen archaischen<br />
Kern an unregelmäßig gebildeten Formen im hochfrequenten Grundwortschatz wie<br />
z.B. bystъ, dastъ usw. leisten sich viele Sprachen. Warum konkrete Verben in der<br />
Formenbildung zum archaischen Kern oder zum progressiveren Rand tendieren,<br />
läßt sich im Einzelfall nicht begründen.<br />
Vorläufig zusammenfassend kann man sagen, daß die generalisierende Aussage<br />
Hirts über gegenseitige Austauschvorgänge bei der Herausbildung indogermanischer<br />
Präsens- und Aoristformen (s. 3.) auf den Fall der slavischen Sprachen