Link - Oapen
Link - Oapen
Link - Oapen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
8 Volker Bockholt<br />
lassen somit an einer bestimmten, von Bjørnflaten mitvertretenen traditionellen<br />
Meinung Zweifel aufkommen. Erkennt man die Bedeutung dieser Daten an, kann<br />
man sich auch der gegenteiligen Meinung anschließen, nämlich der, die Entstehung<br />
der Nullendung in diesem Teil des ostslavischen Gebietes sei eben nicht neu, sondern<br />
im Gegenteil alt. Diese Meinung wird von den mit dem indogermanistischen<br />
Stammbaummodell arbeitenden Slavisten jedoch höchst ungern vertreten (s. 2.).<br />
Es spielt hier wohl auch ein gewisses Moment der Trägheit des Verlaufes von<br />
Wissenschaftsdiskursen eine Rolle: die ersten Funde von Birkenrindentexten haben<br />
zwar ein großes Aufsehen erregt – ein intensives Interesse der sprachwissenschaftlichen<br />
Russistik ist jedoch nur zögerlich entwickelt worden. Noch in der 1980<br />
erschienenen Sprachgeschichte Issatschenkos („sprachgeschichtlich bieten sie recht<br />
wenig“, Issatschenko 1980, 67) wird die Bedeutung der Birkenrindentexte für die<br />
Sprachgeschichte des Russischen verkannt. Erst die seit den achziger Jahren publizierten<br />
Analysen von A. A. Zaliznjak (vor allem: Янин, Зализняк 1986, 89 ff.) –<br />
gestützt durch eine bis heute kontinuierlich wachsende Zahl von Funden – haben<br />
eine angemessene Einschätzung der Birkenrindentexte durch die Sprachhistoriker<br />
eingeleitet.<br />
Angreifbar ist ferner der Umstand, daß Bjørnflaten eine nationalphilologische,<br />
ostslavisch-großrussische Sicht der Dinge einer gesamtslavischen Perspektive vorzieht.<br />
Natürlich kennt Bjørnflaten die gesamtslavischen Verhältnisse. Er erwähnt<br />
kurz, daß „die Nullendung mit den westslavischen Sprachen übereinzustimmen<br />
[. . . ] scheint“ (Bjørnflaten 2003, 48). Er sagt jedoch nicht ausdrücklich, daß die<br />
Nullendung in den westslavischen Sprachen deutlich früher als im 17. Jahrhundert<br />
entstanden ist (s. 5.). Er weicht damit der sich aufdrängenden Frage aus, welche<br />
Ursache im Gdover Gebiet zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt als im westund<br />
im südwestslavischen Sprachraum zu genau demselben Ergebnis, nämlich zu<br />
der konsequenten Nullendung, geführt hat.<br />
Zaliznjak hingegen vertritt die Ansicht, die Nullendung in den Novgoroder<br />
Birkenrindentexten sei erstens alt und zweitens ein genetisch westslavisches Element<br />
(Зализняк 1988, 175). Er zieht den grundsätzlichen Schluß, daß der sprachliche<br />
Befund der Birkenrindentexte der Vorstellung einer monolithischen genetischen<br />
Abzweigung des Urostslavischen vom Urslavischen widerspreche (Зализняк 1988,<br />
176), mit anderen Worten, daß das genetische Prinzip des indogermanistischen<br />
Stammbaummodells den Sprachdaten in den Birkenrindentexten nicht gerecht<br />
werde. Nach Zaliznjak ist die Sprache der Novgoroder Birkenrindentexte als<br />
„Mischtyp von Dialekten“ zu verstehen, in dem ost- und westslavische Merkmale<br />
vereint seien (Зализняк 1988, 165), weil Novgorod in einer „Kontaktzone“ beider<br />
Dialektgruppen gelegen habe (ebd.). Zaliznjaks Ansicht paßt gut zu den belegten<br />
Daten aus dem west- und dem südwestslavischen Sprachraum.<br />
2. Die gesamtslavische Perspektive unseres Problems behandelt ein Überblicksartikel<br />
von Raymond H. Miller (Miller 1988, 7-33), den Bjørnflaten leider nicht<br />
berücksichtigt hat. Der Artikel enthält einen Bericht über den Befund in den<br />
älteren slavischen Handschriften (Miller 1988, Abschnitt 3, 8-9), in den zeitgenös-