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14 Volker Bockholt<br />
Daß das Bild einer Sprache als direkter Nachfolgerin einer älteren Sprache<br />
(Mutter-Tochtersprachenbeziehung der Indogermanistik) nie völlig adäquat ist,<br />
sondern daß Fremdeinflüsse in Rechnung gestellt werden müssen, die auch im Falle<br />
der indogermanischen Sprachfamilie mit ihren sehr verschiedenen Tochtersprachen<br />
(z.B. Englisch vs. Persisch vs. Neuindisch) Sprachwandel hervorgerufen haben können,<br />
ist keine ganz neue Erkenntnis (Boretzky 1973, 153-154). Die Entstehung des<br />
angeführten Beispiels aus dem Mednyj-Aleutischen paßt gut zu Boretzkys Meinung,<br />
und sie zeigt, daß Sprachwandel einen Sitz im Leben solcher Menschengruppen<br />
hat, die in einer zweisprachigen Umgebung miteinander auskommen müssen. Es<br />
ist also sinnvoll, zu versuchen, die Entstehung von Formen, deren Herleitung aus<br />
einer genetischen Prozedur heraus Schwierigkeiten bereitet, aus der Annahme<br />
einer geeigneten Sprachkontaktsituation herzuleiten. Dabei ist von der Erwartung<br />
auszugehen, daß das Ergebnis des zu beschreibenden Sprachwandels Eigenschaften<br />
zweier verschiedener Vorläufersprachen enthalten kann.<br />
5. Unter den von Stang referierten und diskutierten morphosemantischen Erklärungsansätzen<br />
möchte ich zwei herausgreifen. Erstens stellt er die Erwägung vor,<br />
die harte Dentalendung -тъ sei „aus dem Aorist (Typus jętъ) [in das Präsens, V.B.]<br />
übernommen“ (Stang 1942, 216) worden. Diese Annahme verwirft Stang ohne<br />
weitere Argumentation: „Eine solche Übernahme der Aoristendung wäre an sich<br />
nicht sehr wahrscheinlich.“ (ebd.) Zweitens diskutiert er die „den Sprachhistorikern<br />
Schwierigkeit machenden“ (S. 219) Wurzelaoriste auf -tъ wie z.B. jętъ, mrětъ usw.<br />
Nach Vondrák u.a. erörtert er die Ansicht, diese Endungen seien möglicherweise<br />
„vom Präsens entlehnt“ (ebd.). Auch diese Ansicht wird verworfen, statt Argumente<br />
vorzutragen werden an dieser Stelle meinem Erachten nach sinnvolle Fragen<br />
gestellt, die als Begründung für Stangs ablehnende Ansicht gedacht sind, aber<br />
nicht weiter verfolgt werden:<br />
Warum sollten zwei funktionell verschiedene Formen einander angeglichen werden?<br />
Und ferner: falls man neben da sogar eine dem Präsens gleichlautende Form<br />
dastъ geschaffen hat, warum hat sich die Sprache gegen Formen wie *bitъ, *trъtъ<br />
gesträubt? (S. 220)<br />
Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, habe ich zunächst den<br />
Usus für Präsens- und Aoristformen der 3. Person in den ältesten ostslavischen<br />
Denkmälern genau untersucht. Methodisch hat die Wahl dieser Denkmalgruppe<br />
den Vorteil, daß die Endung mit der unumstrittenen Herkunft, also die weiche<br />
Dentalendung -ть, konsequent zur Bezeichnung des Präsens verwendet wird.<br />
Analysiert wurden die gut edierten Evangeliare des ostslavischen Kulturraumes,<br />
also das Ostromir-Evangeliar (1056/57), das Archangel’sker Evangeliar (1092)<br />
und das Mstislav-Evangeliar (vor 1117). Es zeigt sich, daß die beiden ältesten<br />
Denkmäler in bezug auf die hier interessierenden Formen sehr homogen sind.<br />
Neben der regelmäßig weichen Dentalendung -ть für das Präsens, die auch auf die<br />
homophonen Präsens-/Aoristformen der athematischen Verben дасть (Востоков<br />
1843, Грамматическия правила, 95) und ѣсть/ясть (dtsch. er, sie ißt/aß, ebd.