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124 Ulrike Jekutsch<br />
tritt er auf als Verführer zum Tode, zum stillen Schlaf, als Tröster und Freund des<br />
Alten. Der Mann jedoch weist die Verführung des Todes zurück, er strebt vielmehr<br />
nach der Erkenntnis der Geheimnisse der Natur, des Lebens und allen Seins, er<br />
arbeitet an der Zerstörung des Kreislaufes von Leben und Tod, an der Vernichtung<br />
der „Kasematten der Natur“. „Das Gefängnis der Natur“ („темница природы“) –<br />
die ewige Wiederkehr von Leben und Tod, Geburt und Sterben – ist eines der<br />
grundlegenden Motive des Frühwerks von Nikolaj Zabolockij, insbesondere seiner<br />
„Смешанные столбцы“. Der Gedanke von der Befreiung des Menschen aus diesem<br />
Gefängnis geht bei ihm auf die Lehre des Philosophen Nikolaj Fedorov zurück,<br />
auf sein Konzept der „gemeinsamen Sache“ der Menschheit – der Erringung der<br />
Unsterblichkeit des Menschen und der darauf folgenden Auferweckung der Toten<br />
(zu Fedorovs Philosophie s. Hagemeister 1989, zu Zabolockij und Fedorov s. Goldstein<br />
1993, 123-134), auf die wir in diesem Rahmen nicht näher eingehen können.<br />
Hier soll vielmehr die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede der beschriebenen<br />
Begegnungen mit dem Tode gelenkt werden: Jedes Treffen wird in Entsprechung<br />
zum Geschlecht des jeweiligen menschlichen Partners des Todes entwickelt. Das<br />
Mädchen wird als Teil der Natur beschrieben, sie wird verführt durch den als<br />
„Lachen“ auftretenden Tod, ist verbunden mit der Ursünde, auf die der Tod als<br />
ihr Lohn folgt. Der alte Mann erscheint als Krüppel, aber zugleich als denkendes<br />
Wesen, er widmet sich der Wissenschaft, um den ewigen Wechsel von Leben und<br />
Tod zu zerstören und diesen dadurch zu besiegen. Der Text entwirft somit eine<br />
traditionelle Konzeption der Geschlechterrollen.<br />
Die zweite, späte Variante des Textes „Искушение“ aus dem Jahr 1956, ist<br />
auf einen Teil reduziert worden, der die beiden menschlichen Figuren verbindet.<br />
Der alte verkrüppelte Mann und das Mädchen treten nun als Vater und Tochter<br />
auf. Der Tod kommt zuerst zu dem Alten und verspricht ihm Ruhe und Frieden<br />
im Grabe, doch dieser bittet um Schonung „um seines armen Alters willen“ und<br />
bietet ihm seine Tochter zum Tausch an. Der Tod erfüllt die Bitte des Alten und<br />
führt das Mädchen – das nicht gefragt wird – ins Grab. Dort erfährt das Mädchen<br />
dieselben Metamorphosen wie in der ersten Variante. In dieser Redaktion ist das<br />
Mädchen nicht mehr mit Ausschweifung und Sünde verbunden, sondern wird ohne<br />
ihre Schuld zum Opfer des Todes und ihres Vaters, den sie damit zugleich errettet.<br />
Der Tod tritt nicht als „Lachen“ auf, sondern stellt sich dem Alten als Freund<br />
und Tröster vor, dem Mädchen begegnet er als ihr Mörder. Schuberts erotische<br />
Beziehung von Tod und Mädchen ist hier zu einer Begegnung von sich gegenseitig<br />
achtenden Männern geworden, das Mädchen wird zum Opfer der beiden Männer.<br />
Als ein weiterer eventueller musikalischer Prätext könnte in Bezug auf den Tod<br />
und das Mädchen hier Igor’ Stravinskijs „Le Sacre du Printemps“ angenommen<br />
werden, in dem die rituelle Auswahl und Darbringung eines jungen Mädchens als<br />
Opfer für den Gott des Frühlings gestaltet wird (Steegmann 2000, 107-117).<br />
Wenn wir abschließend die Texte Gor’kijs und Zabolockijs miteinander vergleichen,<br />
erweist sich, daß beide Autoren das traditionelle Motiv vom Tod und dem<br />
Mädchen auf völlig unterschiedliche Weise modelliert haben – obwohl beide Volks-