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104 Rainer Grübel<br />

Eine andere von Rosanow entdeckte Insel können wir „Philosophie der Stimmung“<br />

taufen. Diese Entdeckung liegt bei der besonderen Prägnanz von Stimmungslagen<br />

in der russischen Kultur nahe. Wir erinnern nur an Toská, die mit ,Schwermut‘ nur<br />

unzulänglich ins Deutsche übersetzt ist; der Maler Horst Janssen hat ihr ein ganzes<br />

Buch mit Porträts und Werkausschnitten russischer Dichter und Schriftsteller<br />

gewidmet. Rosanow beschreibt – lange vor Freuds Abhandlung über Melancholie –<br />

am Beispiel der von ihm erfahrenen Abschiedstrauer den Übergang einer starken<br />

Empfindung in eine Stimmung. Und anders als Freud verurteilt er Stimmungen<br />

nicht als irrational, sondern erhebt sie zum Kennzeichen „großer Charaktere“:<br />

Stimmungen sind Gefühle von außergewöhnlich allgemeinem Charakter, die entweder<br />

überhaupt kein Objekt haben oder einmal eines hatten, und zu dieser Zeit<br />

Aufwallungen waren und sie dann einbüßten, selbst aber erhalten blieben, wobei<br />

sie ihre Natur unverändert bewahrten. So trauert ein Mensch, der einen Nahestehenden<br />

verloren hat, zunächst um den Verlorengegangen, doch dann, wenn sogar<br />

das Verlorengegangene vergessen wird, bleibt das Gefühl unbestimmter Trauer<br />

in ihm erhalten, ergießt sich gleichsam über seinen Geist und verwandelt sich<br />

in eine beständige Stimmung, die bereits grund- und gegenstandslos ist. Doch<br />

öfter noch sind Stimmungen reine Geistesformen, die entweder nur erregt werden<br />

und durch äußere einmalige Fälle (wie den Tod von Luthers Freund) bekräftigt<br />

werden oder sogar solcher Fälle gar nicht bedürfen, und sei es nur, um geweckt zu<br />

werden. So war Dante nie ein fröhlicher Mensch und konnte es auch nicht sein, war<br />

Schiller nie zynisch und konnte es nicht sein, konnte sich Rousseau nie freuen. Das<br />

Bewußtsein dieser Grundlosigkeit der Stimmung, oder, was dasselbe ist, ihre Reinheit<br />

als Geisteswerk, hat auch in der Sprache seinen Ausdruck gefunden: „grämt<br />

sich“, „freut sich“, „wird unzufrieden“, „ist leid um alles“ sagen ganz gewöhnliche<br />

Menschen, wenn bei ihnen zeitweise eine Stimmung auftritt, die im Grunde nur<br />

großen Charakteren eignet. (Rozanov 1996, 403)<br />

Das Beispiel Luthers, der nach dem Tod des Freundes durch Blitzschlag ins Kloster<br />

gegangen sein soll, ist klug gewählt; es leitet die auf Dauer angelegte Lebenshaltung<br />

überzeugend aus einer einzelnen Erfahrung her. Nur hat Rosanow es unterlassen,<br />

darzulegen, aus welchen Erfahrungen Luther später das Kloster nicht nur verließ,<br />

sondern es überhaupt abschaffte.<br />

Der kulturgeschichtliche Blick auf die Gemütslage berührt sich mit Lew Tolstojs<br />

Ansicht, die Kunst übermittle nicht Kenntnis, sondern Gefühl. Die Bedeutung der<br />

Stimmung in der Geschichte kann Rosanow zufolge gar nicht hoch genug geschätzt<br />

werden. Religion und Revolution, Kunst und Literatur, Leben und Philosophie<br />

erlangten ihre Eigenart in der Stimmung derjenigen, die sie hervorbrächten. Den<br />

Buddhismus sieht er vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt,<br />

die Lehre Zaroasters von der Empfindung der Machtlosigkeit im Kampf mit dem<br />

Bösen. Die Kunst erlange durch dieses oder jenes Gefühl ihr Gepräge, während<br />

ihr Gegenstand – die schönen Formen – stets ein und derselbe bleibe. Das Gefühl,<br />

zur Erde niedergedrückt zu sein und die Hoffnung, im Himmel Zuflucht und<br />

Erleichterung zu finden, hätten sich in der gotischen Architektur ausgedrückt, in<br />

der flämischen Malerei das Gefühl der Zufriedenheit mit dem Leben, in spanischer

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