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Harald Schroeter-Wittke: Vier Variationen zu „O Haupt voll Blut und Wunden“ 3. Variation: Hermann Reutter (1900-1985) – Apokalyptische Passion Mit der 3. Variation wagen wir einen Sprung in die uns prägende Gegenwart. Das Schaffen des Stuttgarter Komponisten Hermann Reutter 7 setzt sich vielfältig mit kirchlichen und religiösen Themen auseinander. Der 1900 in Stuttgart geborene Hermann Reutter kam 1923 zu dem Donaueschinger Kreis um Paul Hindemith. Er schrieb vor allem Lieder, mehrere Opern, 8 Klavierkonzerte. In zwei seiner fünf Klavierkompositionen spielt der Gerhardtsche Choral eine Rolle und bringt dort das apokalyptische Zeitgefühle der 20er Jahre des 20. Jh. zum Ausdruck. Seine „Fantasia Apocaliptica op. 7“ (Edition Schott) für Klavier von 1926 trägt den vielsagenden Untertitel „Erscheinungen zweier Choräle“, eine Auseinandersetzung mit den beiden protestantischsten aller Choräle. Hier werden „Ein feste Burg“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“ als Kontraste zu Gehör gebracht. Die Fantasie beginnt auf den ersten beiden Seiten „äußerst heftig und erregt“, „vorwärts, sehr zügig“ und mit der Anweisung „Immer mehr anstürmen“, bevor dann „wuchtig schreitend, in jagenden Rhythmen“ „Ein Feste Burg ist unser Gott“ erscheint. Nach dessen eruptivapokalyptischem Auftreten, welches die Gewalt, die im Namen dieses Chorals u.a. in der jüngsten politischen Vergangenheit aufgetreten war, 8 eindrücklich erklingen lässt, begegnet als Gegengesang „sehr zart und gesangvoll, in breiter Ruhe strömend“ „O Haupt voll Blut und Wunden“. Dieser Choral als Kontrapunkt vermag zwar zunächst die Brutalität des anderen Chorals zu zügeln und musikalisch einzubinden, jedoch bleibt am Ende die apokalyptische (Ab)Grundstimmung der maßgebende Ton. 9 Reutter stellt damit die Frage nach der friedenspolitischen Kraft des Protestantismus. Schafft er es, mit seiner mystischen und persönlich stärkenden Leidenstheologie den gewaltigen geschichtlichen Herausforderungen seiner Gegenwart Stand zu halten? IMPULSE 4. Variation: Paul Simon (*1941) und Fred Hersch (*1955) – American Tunes Die letzte Variation führt uns in die Popmusik des 20. und 21. Jh. Paul Simon singt mit ihr 1973 eine „American Tune“ – eine amerikanische Weise, eine amerikanische Stimmung. Er dichtet dazu einen neuen Text, der Anklänge hat an den Text des mittelalterlichen Liebesliedes, denn auch Paul Simon ist zu Beginn seines Liedes verwirrt und gesteht ein, dass er oft geirrt hat. Auch sein Song handelt davon, wie 7 Vgl. dazu Heinrich Lindlar (Hg): Hermann Reutter. Werk und Wirken, Mainz u.a. 1965. 8 Vgl. hierzu auch Claude Debussys En blanc et noir (1915) für 2 Klaviere, wo eben dieser Choral als Inbegriff des (preußischen und damit protestantischen) Deutschen zitiert und ironisiert bzw. musikalisch „besiegt“ wird. 9 Etwas anders stellt sich die Situation dar in seinem Zyklus „Die Passion in 9 Inventionen“ aus den Biblischen Szenen op. 25 aus den Jahren 1927 bis 1930 (Edition Schott). Die Passion Christi wird hier zur Passion des Menschen. 53
„Mein Sprachgesell“ – Paul Gerhardt 1607-2007 – VARIATIONEN IMPULSE das Leben von Schmerz und Sehnsucht durchzogen ist und wie wir umgeben sind von zerstörten Träumen und einem Fortschritt, dessen Schattenseiten uns immer näher auf den Leib rücken. Sein Schluss ist vieldeutig: „That's all I'm trying, to get some rest.” Das ist alles, was ich versuche: etwas Ruhe, etwas Schlaf - oder sollten wir besser übersetzen: etwas Tod zu bekommen!? Mir scheint, sein Song spiegelt ziemlich gut ein in der 2. Hälfte des 20. Jh. vorherrschendes Lebensgefühl wider: Many's the time I've been mistaken and many times confused. Yes, and I've often felt forsaken and certainly misused. Oh, but I'm alright, I'm alright, I'm just weary to my bones. Still, you don't expect to be bright and bon vivant so far away from home, so far away from home. I don't know a soul who's not been battered, I don't know a friend who feels at ease. I don't know a dream that's not been shattered or driven to its knees. Oh, but it's alright, it's alright, for we lived so well so long. Still, when I think of the road we're trav'ling on, I wonder what's gone wrong. I can't help it, I wonder what's gone wrong. And I dreamed I was dying, I dreamed that my soul rose unexpectedly, And looking back down to me, smiled reassuringly. And I dreamed I was flying, And high up above my eyes could clearly see the Statue of Liberty sailing away to sea, and I dreamed I was flying. We come on the ship they call the Mayflower, We come on the ship that sailed the moon. We come in the age's most uncertain hours and sing an American Tune. Oh, and it's alright, it's alright, it's alright. You can't be forever blessed. Still, tomorrow's goin' to be another working day, And I'm trying to get some rest, That's all I'm trying, to get some rest. Möglicherweise bezieht sich Paul Simon mit seiner American Tune auf einen Text, der 1948 von Tom Glazer in den USA zu unserer Melodie geschaffen wurde: Because all men are brothers – ein Text, der an die Gesänge, Lieder und Texte der USamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre erinnert und der nach der bedrückenden Zeit des 2. Weltkriegs der Hoffnung auf Frieden Ausdruck verleiht – ähnlich wie seinerzeit Paul Gerhardt nach Beendigung des 30jährigen Krieges mit seinem „Danklied vor die Verkündigung des Friedens“ 10 : 1. Because all men are brothers, Wherever men may be, The world shall be one union, Forever proud and free. No tyrant shall defeat us, No nation strike us down, All men who toil shall greet us, The whole wide world around. 10 Paul Gerhardt: Geistliche Lieder, Stuttgart 1991, 111f. 54
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