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102 Probefahrt<br />
AGF<br />
Words Are Missing<br />
AGF Production<br />
Abstraktion als Waffe gegen<br />
<strong>de</strong>n Gleichklang: Zischen,<br />
Fiepen, Rattern und noch<br />
einmal die elektronischen<br />
Geräte gegen die Gebrauchsanweisung<br />
so erklingen lassen, dass nicht Funktionalität<br />
im Mittelpunkt steht, son<strong>de</strong>rn Lust<br />
an ungewohnten Klängen und Klangkombinationen.<br />
AGF, das ist Antye Greie aus<br />
Berlin, ehemals bei Laub aktiv und noch<br />
immer aktiv im all female Avant-Projekt<br />
Lappetites mit Eliane Radigue, Kaffe<br />
Matthews und Ryoko Kuwajima. Für<br />
»Words Are Missing« kommen tatsächlich<br />
keine Worte mehr zum Einsatz, höchstens<br />
noch Buchstaben, vokal eingesetzt<br />
wie rhythmisch strukturierte konkrete<br />
Poesie. Die Dekonstruktion von Sprache<br />
in ihrer Lautpoesie korrespondiert mit<br />
<strong>de</strong>r Dekonstruktion von Pop und elektronischer<br />
Musik: Drum’n’Bass, House sowie<br />
all das, was in <strong>de</strong>n Neunzigern mal unter<br />
<strong>de</strong>n Hilfsbegriff »Clicks’n’Cuts« gefasst<br />
wur<strong>de</strong>, kommt hier höchstens noch an<br />
<strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn vor, eigenartig <strong>de</strong>formiert,<br />
an<strong>de</strong>rerseits aber auch lustvoll aufgegriffen,<br />
<strong>de</strong>nn die stolpern<strong>de</strong>n, sich munter<br />
überschlagen<strong>de</strong>n Klangpartikel lassen<br />
je<strong>de</strong> Menge Spaß erkennen. Spaß beim<br />
Produzieren, <strong>de</strong>r sich auch aufs Hören<br />
überträgt: »Words Are Missing« erschöpft<br />
sich nicht im bloß Konzeptuellen, son<strong>de</strong>rn<br />
sucht vergleichbar mit Autechre nach einer<br />
Abstraktion, die auf eigenartige Weise<br />
»swingt«. Von dieser Leichtigkeit rückt<br />
AGF nur dort ab, wo es kontextuell Sinn<br />
macht: Auf »Presswehen« sind tatsächlich<br />
Presswehen, also ebenfalls nicht als<br />
Worte erkennbare Schreie zu hören – kein<br />
schön zu hören<strong>de</strong>s Stück, aber beste feministische<br />
Konfrontation auf ganzer Yoko-Ono-Linie.<br />
Ein durchweg empfehlenswertes<br />
Album.<br />
Martin Büsser<br />
Hush Puppies<br />
AJZ FRANKREICH<br />
Zweite Platte, die gar nicht so klingt, wie man es von Franzosen erwartet. Und,<br />
ähnlich wie <strong>de</strong>r Vorgänger »The Trap«, mit üppigem Indie-Pop begeistert, wie ihn<br />
die zahllosen Brit-Bands und -Hypes <strong>de</strong>r Zeit nicht hinbekommen hätten.<br />
A<br />
uf <strong>de</strong>r ersten Single singen sie im Refrain<br />
recht munter »I want my Kate Moss« zu<br />
Riffs, die natürlich auch vom Kollegen Doherty<br />
hätten stammen können. Auf ihrer<br />
Homepage wie<strong>de</strong>rum ist keine offizielle Biografie zu fin<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn ein Multiple-Choice-Fragebogen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Fans alles abverlangt. So auch die Herleitung <strong>de</strong>r musikalischen<br />
Einflüsse, die – mehrere Kreuze sind hier möglich<br />
– gar nicht mal so leicht zu bewerkstelligen ist. Einerseits<br />
verneigt man sich bei <strong>de</strong>n Großen <strong>de</strong>s frühen Britpop<br />
– The Kinks, The Who und vor allem The Small Faces<br />
–, und wenn man <strong>de</strong>m warmen Orgelspiel und <strong>de</strong>n harmonischen<br />
Gitarrenläufen folgt, so sind diese Vorbil<strong>de</strong>r wohl<br />
gewählt. An<strong>de</strong>rerseits erfreut man sich natürlich auch an<br />
<strong>de</strong>n Klängen von Queens Of The Stone Age und vor allem<br />
an <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r skandinavischen Kollegen The Hives. All das<br />
wird mit viel Witz in zehn schöne, kurze, packen<strong>de</strong> Songs<br />
gegossen, wobei das Ganze doch recht gitarrenlastig und<br />
manchmal gar krachig ist, was <strong>de</strong>n Effekt hat, dass man<br />
<strong>de</strong>n bisweilen recht starken französischen Akzent nicht so<br />
Alaska In Winter<br />
Dance Party In The Balkans<br />
Regular Beat / Indigo<br />
Balkan, New Mexico, Alaska,<br />
Arabien. Wer Zach Condons<br />
Beirut-Projekt kennt<br />
und diesen bewusst klischeebela<strong>de</strong>nen<br />
Drahtseilakt aus Folklorismus,<br />
augenzwinkern<strong>de</strong>n Zitaten<br />
und unbekümmertem Drauflosmusizieren,<br />
wird einigermaßen präpariert sein für<br />
das hier, die verschärfte Form jenes Stil-<br />
Mischmaschs: In einer kleinen Holzhütte<br />
irgendwo in Alaska schrieb Brendan Bethancourt,<br />
<strong>de</strong>r in New Mexico lebt, diese<br />
Ungeheuerlichkeit, die so herrlich unbekümmert<br />
Indie-Herzschmerz, Balkan-<br />
Pop, winterliche Tristesse und arabische<br />
Ornamentalspielereien zu einer schwelgen<strong>de</strong>n<br />
Künstlichkeit zusammenführt.<br />
So kann man selbst wählen, ob man<br />
sich über die Absurdität dieses rekursiven<br />
Folklorismus amüsieren o<strong>de</strong>r lieber<br />
ganz unschuldigem Orchester-Electro-<br />
Pop-Tiefgang lauschen mag, <strong>de</strong>r genau<br />
so ist wie die Titel dieser Stücke: »Homeless<br />
And The Hummingbirds«, »Rain On<br />
Every Weekend«, »The Beautiful Burial<br />
Flowers Will Never See« usw. Man kann<br />
diesem kleinen schüchternen Wesen von<br />
einer Platte nur wünschen, dass es alsbald<br />
aus <strong>de</strong>m raumgreifen<strong>de</strong>n Schatten<br />
von Beirut und Zach Condon, <strong>de</strong>r hier übrigens<br />
Ukulele und Trompete spielt, heraustreten<br />
wird.<br />
Lutz Happel<br />
BMX Bandits<br />
Bee Stings<br />
(Stickman / Indigo)<br />
»Es berührt mein Herz, wenn<br />
ich in einem Raum mit Rachel<br />
bin und sie singt. Dieses<br />
Gefühl möchte ich für die<br />
Aufnahmen und die Hörer einfangen. Ich<br />
möchte Rachels Augen in <strong>de</strong>n Songs einfangen.«<br />
Duglas T. Stewart, Sänger <strong>de</strong>r BMX Bandits<br />
aus Glasgow, scheint es richtig erwischt<br />
zu haben. Ohnehin sei Liebe für ihn<br />
das wichtigste Thema in Musik, Kunst<br />
und Literatur, <strong>de</strong>nn »wir können zum<br />
Mond fliegen o<strong>de</strong>r Krankheiten heilen,<br />
aber wir wer<strong>de</strong>n nie vollständig das Mysterium<br />
und Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Liebe verstehen.«<br />
Benannt hatte sich die Band nach<br />
einem australischen Abenteuerfilm von<br />
1983 mit Nicole Kidman. Doch Stewart<br />
hat we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Film gesehen noch jemals<br />
auf einem Fahrrad gesessen. Nach<strong>de</strong>m<br />
die schottische Jangle-Pop-Institution<br />
bereits 20 Jahre zwischen Kummer und<br />
Romantik gepen<strong>de</strong>lt ist und an die Kraft<br />
<strong>de</strong>r Melodie glaubt, wird mit »Bee Stings«<br />
und <strong>de</strong>r neuen Sängerin Rachel (Ex-The-<br />
Attic-Lights) ein neues Harmonie-Kapitel<br />
aufgeschlagen. Was wohl die fünf Bandkollegen<br />
<strong>de</strong>nken, wenn ihr Bandlea<strong>de</strong>r<br />
betont, dass er sich erst jetzt vollständig<br />
und absolut lebendig fühle: »Es ist <strong>de</strong>r<br />
Traum eines je<strong>de</strong>n Künstlers, jeman<strong>de</strong>n<br />
wahrnimmt. Der nämlich wirkt sich hier und da etwas störend<br />
aus, auch wenn man etliche skandinavische Bands<br />
kennt, die mit einem ähnlichen Akzent wun<strong>de</strong>rbare Musik<br />
machen. Und <strong>de</strong>r vielleicht auch <strong>de</strong>r Grund dafür ist,<br />
dass man die Handbremse recht selten zieht. Was scha<strong>de</strong><br />
ist, <strong>de</strong>nn auf einem Song wie »Love Bandit« (blö<strong>de</strong>r Titel,<br />
ja, aber toller Song) beweisen die Hush Puppies, dass<br />
auch große Romantiker in ihnen schlummern. Schön auch<br />
die pathetischen Arrangements von »Down, Down, Down«,<br />
das sich zu einem richtigen Songmonster entwickelt, und<br />
natürlich das Neo-Wave-Feeling von »Bad Taste And Gold<br />
On The Doors« o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Opener »A Trip To Vienna«. <strong>Als</strong>o<br />
ein äußerst gelungenes Album, das einen darauf aufmerksam<br />
macht, dass in Frankreich neben <strong>de</strong>n obligatorischen<br />
Chansons und <strong>de</strong>n vielen guten Elektronikbands auch die<br />
Indierock-Szene recht lebendig zu sein scheint ...<br />
Sascha Seiler<br />
Hush Puppies »Silence Is Gol<strong>de</strong>n« (Faith Records / Stereo Deluxe)<br />
zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r einen beim Singen immer<br />
wie<strong>de</strong>r inspiriert.« Und es kommt noch dicker:<br />
»Wenn ich Rachel sehe o<strong>de</strong>r höre,<br />
könnte ich Drachen erschlagen, wun<strong>de</strong>rschöne<br />
Sinfonien komponieren und<br />
die Welt erobern.« Doch selbst die BMX<br />
Bandits können nicht die kleinen Stiche<br />
<strong>de</strong>s Lebens verhin<strong>de</strong>rn, bereits stellvertretend<br />
verpackt im Songtitel »The Road<br />
Of Love Is Paved With Banana Skins«<br />
vom 2003er-Album »Down At The Hop«.<br />
Stewart stellt sich beim Songwriting die<br />
Stimme <strong>de</strong>r jeweiligen Partnerin vor, lässt<br />
sie im Kopf kreisen, um <strong>de</strong>ren Atmosphäre<br />
und Essenz wie<strong>de</strong>rgeben zu können. So<br />
schwebt feiner, teilweise zweistimmiger<br />
Gesang durch die Midtempo-Stücke »Take<br />
Me To Heaven«, »Elegant Lines« o<strong>de</strong>r »After<br />
I Ma<strong>de</strong> Love To You«. Apropos, noch<br />
einmal <strong>de</strong>r umnebelte Stewart: »Wenn<br />
Sex schön ist, ist er <strong>de</strong>r absolute, ungehemmte<br />
und wahre Ausdruck von Liebe.<br />
Zu lieben kann nichts überbieten – nicht<br />
einmal die BMX Bandits.« Henrik Drüner