040 Musik »Wo warst du, als das Sparwasser-Tor fiel?« Das ist lange vorbei. Die Frage <strong>de</strong>s Jahres 2007 lautete: »How much did you pay for the Radiohead album?« Endlich passierte mal wie<strong>de</strong>r etwas im Geschäft <strong>de</strong>r Popmusik, das <strong>de</strong>n großen Umsturz zumin<strong>de</strong>st erhoffen ließ. Christian Steinbrink fragte bei Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood über die Beweggrün<strong>de</strong> für die neue Form <strong>de</strong>s Releases ihres Albums »In Rainbows« nach. Radiohead
Musik 041 D er große Showdown, das Release, liegt jetzt etwa zwei Monate zurück [das Interview fand Anfang Dezember statt]. Wie sieht euer Resümee aus? Seid ihr zufrie<strong>de</strong>n? Ja, <strong>de</strong>finitiv ja. Es ging uns in erster Linie darum, das Album so schnell wie möglich nach Beendigung <strong>de</strong>r Produktion herauszubringen, und es war sehr schön, dass sich das ermöglichen ließ. Im Vorfeld <strong>de</strong>r Veröffentlichung waren wir sehr aufgeregt, fast wie vor einem Gig. Der Morgen <strong>de</strong>s 10. Oktobers war dann fast wie eine Performance, wie ein Happening. So viele Leute lu<strong>de</strong>n das Album fast zeitgleich herunter, konnten es sofort hören, und wir hatten dafür nur eine CD in einen Server in London einlegen müssen. Das war für uns ein tolles und interessantes Gefühl. Wann entstand <strong>de</strong>nn die I<strong>de</strong>e, die Platte auf diese Art und Weise, zunächst ausschließlich per Net-Release, zu veröffentlichen? Unser Manager sprach schon seit Jahren davon. Zunächst nur sehr vage. Aber diese I<strong>de</strong>e sprach uns eigentlich gleich an, und wir fingen im April dieses Jahres an, das Release zu planen. Er ist die meiste Zeit gelangweilt und stoned und verbringt seine Zeit damit, sich neue Wege auszu<strong>de</strong>nken, um sein Business spannend zu halten. Ist <strong>de</strong>nn die Veröffentlichung <strong>de</strong>r physischen Version immer noch aufregend für dich, o<strong>de</strong>r drehte sich alles um <strong>de</strong>n Tag <strong>de</strong>r Erstveröffentlichung? Das gehört ja zusammen. Niemand kann sagen, was nach <strong>de</strong>m Net-Release mit <strong>de</strong>m CD-Release passieren wird. Erst heute erfuhren wir, dass manche Ketten in England die Platte nicht vorbestellt haben, weil sie nicht glauben, sie noch loszuwer<strong>de</strong>n. Wir können aufgrund <strong>de</strong>s Net-Releases nicht vorhersehen, wie sich das CD-Release entwickelt. Wir sind gespannt darauf, das zu erfahren. Was für Erwartungen hinsichtlich <strong>de</strong>r Reaktionen auf die Bekanntgabe <strong>de</strong>s Net-Releases hattet ihr <strong>de</strong>nn? Noch eine Woche vor Veröffentlichung dachten wir, dass die Nachricht große Aufmerksamkeit erregen müsste. Aber ein paar Tage später fingen wir an, uns Sorgen zu machen. Wir fingen an zu zweifeln, ob das überhaupt jeman<strong>de</strong>n interessieren wird. Wir gingen zwar weiter davon aus, dass sich die Nachricht im Web verbreiten wird, dachten aber, dass zehn Tage einfach zu kurz seien. Wir waren ziemlich verunsichert. Es war vor allem Neugier<strong>de</strong>, die das Release angetrieben hat. Der Wunsch, mal wie<strong>de</strong>r etwas Neues zu erleben, nicht zu wissen, was passieren wird. Normalerweise gibt es ja irgen<strong>de</strong>inen Plan irgen<strong>de</strong>iner Plattenfirma, <strong>de</strong>n du befolgen musst. Du musst zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, du musst ein Vi<strong>de</strong>o machen, du musst dies und das tun. So fühlte es sich an, als Jonny Greenwood als Solokünstler Nach<strong>de</strong>m Greenwood 2003 einen ersten Soundtrack produzierte, wur<strong>de</strong> er 2004 von <strong>de</strong>r BBC als Hauskomponist engagiert. Er bekam die Möglichkeit, drei Symphonien aufzuführen, von <strong>de</strong>nen eine, »Popcorn Superhet Receiver«, 2006 mit <strong>de</strong>m Publikumspreis <strong>de</strong>r BBC British Composer Awards ausgezeichnet wur<strong>de</strong>. Zuletzt veröffentlichte Greenwood eine Reggae-Compilation bei Trojan Records mit <strong>de</strong>m Titel »Jonny Greenwood Is The Controller«. Reaktionen auf Radioheads Release Ein Teil <strong>de</strong>r Reaktionen auf die Veröffentlichung fiel lobend o<strong>de</strong>r bewun<strong>de</strong>rnd aus, es gab aber auch negative Stimmen: Lily Allen nannte es »arrogant, die Musik praktisch kostenlos abzugeben«. Mike Skinner a.k.a. The Streets hatte nur Spott für die I<strong>de</strong>e übrig und rückte sie in die Ecke von 68er-Klischees, und Maynard James Keenan von Tool ließ durchblicken, dass er die Band für zu weich halte, um harte Business-Entscheidungen zu treffen. Außer<strong>de</strong>m warf er Radiohead vor, nur auf kurzfristigen Publicity- Effekt zu setzen. ob wir fünf und die vier Leute, die mit uns arbeiten, gegen <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Welt antreten. Am ersten o<strong>de</strong>r zweiten Tag nach <strong>de</strong>m Release brach einer unserer Server zusammen. Deshalb musste jemand so schnell wie möglich nach Reading fahren, mit einem neuen Server auf <strong>de</strong>m Rücksitz, und ihn anschließen. Es gab keine riesige Plattenfirma mit Leuten, die für dich arbeiten und von <strong>de</strong>nen du noch nie gehört hast. Es war alles so unmittelbar, und wir wur<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r überrascht. Was glaubst du: Wer<strong>de</strong>t ihr Geld gewinnen o<strong>de</strong>r verlieren im Vergleich zu einem herkömmlichen Release? Ich weiß es nicht, wir wer<strong>de</strong>n das herausfin<strong>de</strong>n. Wir sind auf je<strong>de</strong>n Fall zufrie<strong>de</strong>n. Es ist ja klar, dass eure Strategie nur für bekannte Bands funktionieren kann. Kannst du dir vorstellen, wie du han<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>st, wenn Radiohead heute eine neue Band wären? Wie wür<strong>de</strong>st du <strong>de</strong>ine Platte veröffentlichen und promoten? Ich glaube, dass viele Bands mittlerweile My- Space nutzen, ist doch so, o<strong>de</strong>r? Das ist ja auf je<strong>de</strong>n Fall etwas, was man machen kann, wir wür<strong>de</strong>n es wahrscheinlich nicht an<strong>de</strong>rs machen. Es ist immer noch wichtig, viel live zu spielen, das haben wir ja auch gemacht. So gesehen ist es heute nicht an<strong>de</strong>rs als damals, man macht immer noch ähnliche Dinge, um sich eine Fanbase aufzubauen. Auch wir hatten kein Airplay und keine beson<strong>de</strong>re Unterstützung für die ersten zwei Alben, so mussten wir immer wie<strong>de</strong>r auf Tour gehen. Ja, wahrscheinlich hätte kaum eine an<strong>de</strong>re Band das Release so umsetzen können wie wir, das ist wohl die Wahrheit. Dadurch wur<strong>de</strong> aber niemand an<strong>de</strong>res in Mitlei<strong>de</strong>nschaft gezogen. Über eure Beziehung zu Plattenfirmen ist ja schon viel geschrieben wor<strong>de</strong>n. Was war euch wichtig, als ihr für »In Rainbows« auf Labelsuche wart? Was gab <strong>de</strong>n Ausschlag für XL, und was war das entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Problem mit Emi? Es war in <strong>de</strong>r Tat so, dass wir das Net-Release gemacht haben, bevor wir überhaupt versucht haben, einen Plattenvertrag zu bekommen. Das überraschte viele Leute. Es war interessant zu sehen, wie die Plattenfirmen auf unser Vorgehen reagierten, ob sie verärgert o<strong>de</strong>r überrascht o<strong>de</strong>r davon angeregt waren. XL z. B. meinten, dass das Net-Release eine großartige I<strong>de</strong>e sei. Das ist wohl ziemlich mutig, wenn man vorhat, auch ein konventionelles Release zu machen. Aber bei ihnen war es ja oft so, dass ihre Releases Erfolg hatten, obwohl sie schon viele Wochen zuvor geleakt waren, z. B. die White Stripes. Es ist wohl ganz einfach: Wenn es eine gute Platte ist, ist sie es weiterhin wert, in <strong>de</strong>n Lä<strong>de</strong>n angeboten zu wer<strong>de</strong>n. Bei einer schlechten Platte macht es wohl keinen großen Sinn. Vielleicht läuft es einfach darauf hinaus, und es ist auch völlig okay so. ≥